Im Allgemeinen wird der Fundort mit dem Entstehungsort der Handschrift identifiziert. Dies ist wegen der komplizierten Vor- und Nachgeschichte der Johann-Albrecht-Bibliothek keineswegs zwingend, sodass die Forschung versuchte, weitere Indizien für diese These beizubringen. So glaubte Claussen, die Rostocker Provenienz mit der Interpretation der Nr. 58 stützen zu können, von der er annahm, dass sie "vom guten Rostocker Essen" handele (Claussen 1915, S. 21) und die er deshalb als "Loblied" auf die Hansestadt verstand (Claussen 1919, S. VII). Ranke und Müller-Blattau, (S. [96–98] 288–290), teilen mit Claussen den vermuteten Bezug auf die Stadt, stellen den Text allerdings in ganz andere Zusammenhänge, indem sie ihn als eine Auseinandersetzung mit der Rostocker Domfehde verstehen. Diese Deutung des Liedes bedürfte einer kritischen Überprüfung.

Außerdem versuchen Ranke und Müller-Blattau, Claussens ansprechende Überlegung, dass das "Rostocker Liederbuch" im Umkreis der Universität entstanden sein könnte, zu stützen, indem sie einerseits auf die lateinischen und lateinisch-deutschen Texte und Eintragungen der Handschrift hinweisen und andererseits auf die Erwähnung der studentischen Bursen in Nr. 51 (vgl. Ranke / Müller-Blattau 1927, S. [8f.] 200f.).

Die lateinischen und lateinisch-deutschen Texte setzen in der Tat einen gelehrten Kontext voraus, und unter der Vorgabe, dass das Lied Nr. 51 an dem Ort entstand, an dem auch das "Rostocker Liederbuch" zusammengestellt worden ist, scheint einiges für die "Leuchte des Nordens" als Entstehungskontext der Handschrift zu sprechen. Vgl. auch den in Nr. 55 erwähnten mester aus der scole, der sich evtl. auf einen Magister im universitären Unterricht beziehen lässt.

Auffällig ist indes – wie bereits Ranke und Müller-Blattau (ebd.) festhalten – dass keiner der Namen, die im Liederbuch genannt werden, in der Rostocker Matrikel nachweisbar ist. Aufschlüsse zur Provenienz sind evtl. von der noch ausstehenden Analyse der Schriftsprache zu erwarten. Der Schriftdialekt der meisten deutschsprachigen Texte im Rostocker Liederbuch ist mittelniederdeutsch.

Der Charakter der Schrift weist auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts hin. Einigen Anhalt für die Datierung bieten die historischen Lieder Nr. 3–5, 11, 15 und 58. Die Lieder 3, 4, 5, 11 und 15 verweisen auf historische Ereignisse in der Landesgeschichte Braunschweigs, die auf die Zeit von ca. 1432–1465 datiert werden, während sich das (von der Haupthand nachgetragene!) Lied Nr. 58 (Blatt Nr. 39r bis 39v) vermutlich auf die sogenannte Rostocker Domfehde bezieht (1487–1491). Dadurch erhält man für den Hauptbestand der Sammlung das Jahr 1465, für den Nachtrag das Jahr 1487 als terminus post quem. Daraus ergibt sich, dass das Liederbuch im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts angelegt worden sein mag und gegen Ende des Jahrhunderts erweitert wurde.

Die Wasserzeichen bestätigen die Datierung in die 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts, denn die Zeichen der Blätter 33 und 38 (Ochsenkopf mit Augen; als Oberzeichen eine einkonturige Stange mit fünfblättriger Blume) stimmen mit den Wasserzeichen WZMA AT5000-431_96 und WZMA AT5000-431_97 auf der Handschrift Klosterneuburg: Augustiner Chorherrenstift: Cod. 431 überein, die auf 1455 datiert wird (vgl. die Abbildung der Wasserzeichen der Blätter 33 und 38 mit http://www.wzma.at/5168 sowie http://www.wzma.at/5169).

Die Wasserzeichen des "Rostocker Liederbuchs" bestätigen eine Datierung der Handschrift auf die 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts (vgl. Ranke / Müller-Blattau 1927, S. [1f.] 193f. und Heydeck 2001, S. 128). Die Übersicht zu den Wasserzeichen können Sie sich als PDF hier herunterladen.

Bl. 3: Rest  
Bl. 5: Krone Typ PiccKrone I, 325a (vgl. Heydeck 2001, S. 128)
Nachgewiesen: 1454–1470
Beschreibung: Enden blattförmig, Krone oben offen, Reif dreikonturig
  
Bl. 8: Vgl. Bl. 5  
Bl. 10: Ochsenkopf 1
Mit Augen, mit angedeutetem Maul
  
Bl. 19: Turmfragment (Heydeck 2001, S. 128)  
Bl. 33: Ochsenkopf mit Oberzeichen, Augen, einkonturiger Stange mit fünfblättriger Blume
Typ: PiccOchsenkopf XII 133–135
Übereinstimmung mit den Wasserzeichen einer Handschrift aus dem Augustiner Chorherrenstift Klosterneuburg (Cod. 431), datiert auf 1455.
Vgl.: http://www.wzma.at/5168 und http://www.wzma.at/5169
  
Bl. 38: Vgl. Bl. 33  
Bl. 42: Rest eines Ochsenkopfs/Turms? Einkonturige Stange mit Stern  

Der Erhaltungszustand der Handschrift ist schlecht. Die Seiten wurden 1568 vom Buchbinder teilweise stark beschnitten und sind jetzt mit modernem Papier verstärkt (Heydeck 2001, S. 128). Die Schriften sind zwar prinzipiell gut lesbar, allerdings ist die Tinte durch den Buchbinderleim des 16. Jahrhunderts und durch eine Restaurierung des Liederbuchs im 20. Jahrhundert so stark verblichen, dass heute vieles nur noch im Lichte einer Quarzlampe entziffert werden kann.

Die Handschrift wurde im April 1960 von Hans Heiland in Gera restauriert und mit einem neuen Einband versehen (vgl. Heydeck 2001, S. 129). Durch diese Arbeiten sind die Blattränder stabilisiert worden, allerdings hat die Lesbarkeit der Schrift sehr gelitten.

Aufbewahrungsort und Signatur

Rostock, Universitätsbibliothek: Mss. philol. 100/2

Beschreibstoff

Papier

Blattgröße

Ca. 11–12,8 cm x 8,5 und 9,6 cm; die Blätter sind vom Buchbinder verschieden stark beschnitten: oben bzw. unten fehlen bis zu 3,5 cm, am Außenrand weniger.

Schriftspiegel

Ca. 12–12,5 x 6,5–7 cm; die Seiten sind unliniert, der Schriftraum ist zumeist nicht fixiert. 

Zeilen

Ca. 22

Kolumnen

1

Markierung von Texteinheiten

Die Verse sind bei den Liedern (wie in der Lyriküberlieferung üblich) nicht abgesetzt, als einzige kolometrische Gliederungshilfe fällt die gelegentliche Markierung von Refrains auf. Die Verse der Reimpaare sind abgesetzt.

Gesamtumfang in Blättern

Bruno Claussen konnte 44 Blätter des Liederbuchs zusammentragen, die in der von ihm rekonstruierten Lagenordnung neu vereinigt wurden.

Genauer handelt es sich um 44 (mehr oder minder) ganz erhaltene Blätter sowie einen eingehefteten Papierfetzen, der in der Edition von Ranke und Müller-Blattau als Bl. 23a gezählt wird. Diese Nummerierung der Blätter, die auf Claussen zurückgeht (und die sich in der Handschrift auf den Recto-Seiten oben rechts findet), wird auch in dem Farbfaksimile von 1989 beibehalten, das der Neuausgabe von Ranke / Müller-Blattau beigefügt wurde und zudem als Seperatdruck der Rostocker Universitätsbibliothek erschien (Rostocker Liederbuch. Faksimile der Handschrift Mss. philol. 100/2 der Universitätsbibliothek Rostock. Mit einem Nachwort von Karl-Heinz Jügelt. Rostock 1989). In der Handschriftenbeschreibung von Heydeck 2001 (S. 130) hingegen wird dieses Blattfragment (im Rückgriff auf eine jüngere Zählung, die sich auf den Recto-Seiten unten links findet) als Bl. 24 gezählt; dehalb weicht Heydeck ab Bl. 23 von der eingeführten Zählung ab. Dieser Nummerierung folgt auch das Digitalisat der Handschrift auf dem Dokumentenserver der Universitätsbibliothek Rostock.

Um die Vergleichbarkeit mit der einschlägigen Forschung zu gewährleisten, wird (wie auch in der Neuedition) die alte Nummerierung beibehalten. Zur Zählung vgl. auch Heydeck 2001, S. 129.

Art und Anzahl der Lagen

Auf der Basis der alten Zählung von Claussen ergibt sich das folgende Lagenschema:

  • 1 Quinio (Bl. 1–10)
  • 2 Einzelblätter (Bl. 11 und 12)
  • 1 Ternio (Bl. 13–18)
  • 1 Quinio mit zwei fehlenden Einzelblättern (Bl. 19–26) [nach Bl. 23 das ungezählte Blattfragment 23a]
  • 1 Binio (Bl. 27–30) [als Rest eines ehemaligen Quinios, dem sechs Einzelblätter fehlen?]
  • 1 Quaternio (Bl. 31–38) [als Rest eines Quinios, dem zwei Einzelblätter fehlen?]
  • 1 Doppelblatt (Bl. 39–40)
  • 1 Binio (Bl. 41–44) [als Rest eines Ternios, dem zwei Einzelblätter fehlen?]

(V10 + 212 + III18 + (V-2)26 [das ungezählte Blattfragment 23a] + II30 [= V-6?] + IV38 [V-2?] + I40 + II44 [= III-2?].

Vgl. hierzu auch Ranke / Müller-Blattau 1927, S. [2f.] 194f.; ein Lagenschema nach der neuen Zählung findet sich bei Heydeck 2001, S. 128f.

Ranke / Müller-Blattau 1927, S. [3] 195, weisen darauf hin, dass die Reihung der Texte innerhalb der Lagen gut gesichert sei, während über die ursprüngliche Folge der Lagen keine gesicherten Aussagen gemacht werden könnten. Die Lagenordnung gibt also lediglich über die von Claussen hergestellte Reihung der Blätter Auskunft und sagt nur wenig über die von den Sammlern selbst angelegte Struktur der Handschrift. Als einigermaßen gesichert erscheint Ranke / Müller-Blattau die Position der Anfangslage; außerdem vermuten sie, dass das Einzelblatt 40 ursprünglich den Bestand abschloss (also vermutlich nach den Blättern 41–44 stand). Die Reihenfolge der Lagen dazwischen sei von Claussen "willkürlich gewählt", freilich ohne dass eine abweichende Ordnung zu begründen wäre (vgl. Ranke / Müller-Blattau 1927, ebd.).

Buchschmuck

Beim "Rostocker Liederbuch" handelt es sich um eine schlichte Gebrauchshandschrift mit wenig Schmuck. Auf Bl. 1r, 17v, 18r, 32r–34r, 35v, 36r–38v und 43r finden sich ausgeschmückte, mehrzeilige Majuskeln in Tintenfarbe; der Beginn von Bl. 41r ist rubriziert (vgl. auch Heydeck 2001, S. 129).

Die Handschrift wurde von drei Hauptschreibern (Grundstock) aufgezeichnet:

Hand 1 trägt alle Texte ein, mit Ausnahme von Nr. 10 (= Hand 2), Nr. 19–21 (= Hand 3) und eines (unverständlichen) Nachtrages nach Nr. 11 (= Hand 4); evtl. stammt auch noch Nr. 7 von einer anderen Hand.

  • Hand 1: Kursive
  • Hand 2: Bastarda
  • Hand 3: Bastarda
  • Hand 4: Kursive

Die lateinischen Kommentare zu den Texten stammen durchweg von Hand 1.

Hand 1Hand 2Hand 3Hand 4
Kursive
Lied 1
Blatt 1r
Bastarda
Lied 10
Blatt 11r
Bastarda
Lied 19
Blatt 19r
Kursive
Nachtrag zu Lied 11
Blatt 12v
    

Einstimmige Melodien

Die Mehrzahl der einstimmigen Lieder des "Rostocker Liederbuchs" sind mit Einzelzeichen der schwarzen Mensuralnotation (Brevis, Semibrevis, Minima und Fusa) notiert (Beispiel A).

Dabei haben die Zeichen teilweise keine streng mensural-quantitative Bedeutung, sondern bieten feinrhythmische Hinweise bei Wiederholungen von Tönen auf gleicher Höhe, die als Folge überschießender Silben auftreten (vgl. die Noten über "vo-ge-lin" [Bl. 6v]).

In einer Gruppe von als "tenor" bezeichneten Melodien wird dieses Repertoire von mensuralen Zeichen ergänzt um charakteristische Gruppen von puncta (Rhomben), in Dreier- und Zweierverbünden gesetzt. Daraus ist eine eigene rhythmische Prägung dieser Melodiengruppe abzulesen (Beispiel B).

Eine dritte Gruppe von Liedern (Nummern 6, 16a–18) ist in einer gemischten Notation aufgezeichnet: Mensural unbestimmte Hufnagelneumen (Virga, Punctum und Clivis für absteigende Zweitonverbindungen) treten neben den gebräuchlichen Zeichen der Mensuralnotation (Minima und Fusa) auf (Beispiel C).

 Brevis                        SemibrevisMinimaFusaVirgaPunctumClivis
A    
B   
C      

Christoph März hat eine nach Liednummern geordnete Übersicht über die in den einstimmigen Liedern verwendeten Notenzeichen zusammengestellt (März 2000, S. 138f.).

Zweistimmige Liedsätze

Zwei zweistimmige Lieder (Nr. 42 O Maria rogatrix (33r) und Nr. 60 Dixit, dixit / Quoniam secta (43r) – Texthand 1) sind von unterschiedlichen Händen mit den Notenzeichen Longa, Brevis und Semibrevis der schwarzen Mensuralnotation notiert (Beispiel D). Ein Lied (Nr. 19 Wach uff myn hort – Texthand 3) ist in weißer Mensuralnotation (Longa, Brevis, Semibrevis, Minima) aufgezeichnet (Beispiel E).

 LongaBrevisSemibrevisMinima
D   
E    

Das Verhältnis von Textschriften und Notationen erfordert weitere Untersuchungen. Auf jeden Fall lassen die je verschiedenen mehrstimmigen Aufzeichnungen bezweifeln, ob gemäß des Befundes von Ranke / Müller-Blattau alle Melodien mit Ausnahme von Nr. 19 tatsächlich vom Hauptschreiber notiert worden seien, ob es also, wie Christoph März annimmt, "der Schreiber des Rostocker Liederbuchs" gewesen sei, der "mit von niemandem bezweifelter Könnerschaft zu verfahren [in der Lage war], wo ihm an der Aufzeichnung mehrstimmiger Musik gelegen war" (März 2000, S. 137).

Eine Übersicht der Notationsformen können Sie hier herunterladen.

Abbildungen der Notationsformen

NotationsformLiednr.LiedBlattnr.
Tenornotation1Scheyden, du scheyden du vil sendighe not1r
weiße Mensuralnotation19Wach uff myn hort19r
gemischte einstimmige Notation16aIn nemore viridi17r
gemischte einstimmige Notation17De jungelin sprack17v
mensurale Zeichen mit metrisch-deiktischer Funktion16bIn nemore viridi34r
schwarze Mensuralnotation (Hand 1)42O Maria rogatrix33r
schwarze Mensuralnotation (Hand 2)60Dixit, dixit / Quoniam secta43r

Die Existenz mehrerer Schreiber, die Schwankungen im Schreibduktus der ersten Hand sowie große Divergenzen in der Farbe der Tinten deuten darauf hin, dass das "Rostocker Liederbuch" nicht in einem Zug abgeschrieben wurde, sondern erst nach und nach entstand, vermutlich sogar über einen längeren Zeitraum hinweg. Offenbar handelt es sich um eine Art Sammelheftchen, in das ein Bestand von Liedern eingetragen worden ist, der dann sukzessive um neue Texte und Melodien erweitert wurde.

Unterschiedliche Tintenfärbungen

Seiten, die mit einer dunklere Tinte beschriftet worden sind (z.B. auf Bl. 1r, 6v, 8v–9r, 11rv, 32r–38r, 43r), wechseln sich ab mit Seiten, die eine helle Tintenfärbung aufweisen (z. B. Bl. 2v–3r). Besonders interessant ist die Aufzeichnung von Lied Nr. 2 (Bl. 1v) durch die 1. Hand, weil nach dem ersten Drittel des Textes (nach Ranke / Müller-Blattau 1927, Nr. 2, V. 9) ein Wechsel von einer kräftigen zu einer blassen Färbung der Schrift eintritt. Dies könnte darauf hinweisen, dass der Text in zwei separaten Arbeitsschritten eingetragen wurde.

                  

Nr. 58 als klar erkennbarer Nachtrag

Das Anwachsen des Bestandes zeigt sich besonders gut an dem Lied Nr. 58, das sich schon durch die Art, wie es aufgezeichnet worden ist, als Nachtrag zu erkennen gibt: Der Text beginnt auf Bl. 39v, dabei ist die Schreibrichtung auffälligerweise parallel zur Langseite des Blattes ausgerichtet. Nach Vers 50 wurde die Aufzeichnung dann auf der Vorderseite von Bl. 39 fortgeführt, und zwar auf dem rechten Blattrand (und auch hier parallel zur Langseite). Vgl. Ranke / Müller-Blattau 1927, S. [81f.] 273f. (Anmerkungsapparat zu Nr. 58) sowie die Abbildung der Seiten 39r und 39v.

Mehrfachaufzeichnungen

Die sukzessive Erweiterung der Liedsammlung erklärt auch, dass von einer ganzen Anzahl von Melodien und Texten Mehrfachaufzeichnungen vorliegen (Nr. 1–5, 16–17, 19 sowie 37–38). Dabei lassen sich die folgenden Arten der Mehrfacheinträge unterscheiden:

  • Bei den Nummern 1–5 sowie 37 findet sich die Notation des vollständigen Textes ohne Melodie und zusätzlich an anderer Stelle ein Notensystem mit dem Text der 1. Strophe.
  • Im Falle von Nr. 19 wird der vollständige Text mit Melodie aufgezeichnet; zusätzlich gibt es an anderer Stelle eine Melodienotation ohne Text.
  • Ein regelrechter Doppeleintrag, bei dem Text und Melodie zwei Mal an unterschiedlichen Stellen notiert werden, lässt sich bei den formal eng zusammenhängenden Nummern Nr. 16–17 beobachten (wobei der Zweiteintrag von Nr. 17 auf eine Notation der Melodie verzichtet, weil diese ohnehin in allen wesentlichen Strukturmerkmalen mit der von Nr. 16 übereinstimmt).
  • In der Aufzeichnung von Nr. 38 schließlich werden die ersten beiden Notationstypen miteinander kombiniert.

Aufschlussreich für die Entstehungsgeschichte der Handschrift ist, dass die meisten Zweiteinträge auf wenigen Seiten zusammenstehen: Vgl. v. a. Bl. 4v (Nr. 3 und Nr. 4), Bl. 34r–35r (Nr. 16, 17, 19) sowie Bl. 43v–44r (Nr. 37–38).

Clusterbildung

Ferner finden sich an manchen Stellen der Handschrift regelrechte Cluster von sehr ähnlichen Liedern. Besonders deutlich ist dies in der Folge der Lieder Nr. 19–21 zu erkennen, die nicht nur von einer Hand (Schreiber 3) notiert worden sind, sondern die überdies allesamt aus oberdeutschen Quellen stammen und sich infolgedessen im Sprachstand deutlich von den vorher wie nachher eingetragenen Liedern unterscheiden.

Die Namen von Beiträgern

Das "Rostocker Liederbuch" ist ein Gemeinschaftswerk, das auf der Sammeltätigkeit verschiedener Personen beruht. Viele der Lieder mögen von den drei Schreibern selbst gefunden und in das Liederbuch integriert worden sein; jedoch notiert die Hand 1 in drei Fällen den Namen von Beiträgern:

  • Dominus et Magister Andreas de Prutzia (Bl. 10v; nach Nr. 9)

Dominus et Magister Andreas de Prutzia / [dedit] praescriptum textum cum suis notis.

                

Der Herr und Magister Andreas de Prutzia hat den vorher eingetragenen Text beigesteuert (einschließlich der Noten).

  • Johannes und Elisabeth (Bl. 17r; nach Nr. 15)

Johannes et leue trute / Johannes dedit praescriptum canticum / Elisabeth nuncupata.

                 

Johannes und seine geliebte Anvertraute, "teure Elisabeth" genannt. Johannes trug das oben stehende Lied bei.

  • Steffanus frater (Bl. 18r; nach Nr. 17)

Steffanus frater praescripta duo / Cantica dedit magno cum amore.

                  

Bruder Steffanus hat die beiden vorher eingetragenen Lieder gestiftet mit großer Liebe.

1. Auswertung nach Sprachen (Niederdeutsch, Hochdeutsch, Latein)

Niederdeutsche Texte (N)

Bei den Stücken Nr. 13, 30, 33, 37, 47, 50, 54 und 55 handelt es sich nach Ausweis der Reime um Lieder, die nördlich der Benrather Linie entstanden sind. Der Sprachstand kann als konsequent mittelniederdeutsch beschrieben werden. Parallelüberlieferungen im hochdeutschen Raum können nicht nachgewiesen werden.

Texte mit hochdeutsch-niederdeutscher Sprachmischung (H/N)

Das Ensemble der hochdeutsch-niederdeutschen Mischtexte ist mit insgesamt 40 Stücken die größte Gruppe im "Rostocker Liederbuch". Es lässt sich nach dem Entstehungsraum der Texte wie folgt weiter unterteilen in:

hochdeutsch-niederdeutsche Mischtexte mit hochdeutschem Ursprung

Zu dieser Gruppe zählen die Stücke 1, 7-9, 14, 15, 22, 31, 36, 38, 45, 46 und 48. Ihre hochdeutsche Provenienz ist über die Existenz einer hochdeutschen Parallelüberliefung oder aber über hochdeutsche Sprachspuren im Reim erschließbar. Charakteristisch für den Sprachstand dieser Stücke sind hyperkorrekte und hybride Formen, die - von der Nr. 44 abgesehen - in den ursprünglich niederdeutschen Texten nicht beobachtet werden können.

hochdeutsch-niederdeutsche Mischtexte mit niederdeutschem Ursprung

Niederdeutsche Reime und fehlende hochdeutsche Parallelüberlieferungen kennzeichnen die Stücke 2-6, 10-12, 17, 18, 23-24, 26, 27, 29, 32, 34, 35, 44, 49, 52, 53, 56-59 als ursprünglich niederdeutsche Texte.

Ursprünglich hochdeutsche Texte, die viel von ihrem Sprachstand beibehalten haben (H)

Die Vertreter dieser Gruppe - die Lieder 19-21 - sind im Sprachstand weitestgehend hochdeutsch. Sie sind oft (aber keineswegs immer) auch in hochdeutschen Überlieferungsträgern bezeugt.

Texte mit einer lateinisch-(hoch/nieder)deutschen Sprachmischung (L/H/N)

Die Lieder Nr. 28 und 43 weisen eine Mischung aus lateinischen und deutschen Merkmalen auf. Der Sprachstand der deutschen Passagen in Nr. 28 und die hochdeutsche Parallelüberlieferung des Textes verweisen darauf, dass dieses bilinguale Lied vermutlich nicht niederdeutschen Ursprungs ist, sondern lediglich an das Idiom der norddeutschen Sammler / Schreiber angepasst wurde. Komplizierter ist der Fall von Nr. 43, wo niederdeutsche und hochdeutsche Formen nebeneinander stehen.

Rein lateinische Texte (L)

Um rein lateinische Texte handelt es sich bei den Liedern mit den Nummern 16, 39–42, 51, 60. Die lateinischen bzw. lateinisch-deutschen Lieder stehen in der Handschrift oft in unmittelbarer Nachbarschaft.

2. Auswertung nach niederdeutschen Varietäten

Die insgesamt 50 Texte der Gruppen N, H/N sowie L/H/N enthalten mittelniederdeutsche Kennformen, die Aufschluss über die Lokalisierung von Entstehung und Zirkulation der Texte geben können. Mithin lässt sich kaum ein Stück mit Eindeutigkeit einem mittelniederdeutschen Schreibidiom zuordnen, da die einzelnen Texte fast immer Kennformen verschiedener regionaler Varietäten enthalten. Zumindest indiziert der Kennformenbestand jedoch eine starke westniederdeutsche Prägung des Textcorpus, wohingegen ostniederdeutsche Varianten deutlich seltener belegt werden können. Die folgende Übersicht gibt einen Einblick in den Kennformenbestand des "Rostocker Liederbuchs", strebt allerdings keine Vollständigkeit an.

Texte mit nordniederdeutschen Kennformen (18)

Nr. 1, 3, 5-8, 14, 18, 23, 24, 26-29, 33, 37, 50, 58

Texte mit ostfälischen Kennformen (17)

Nr. 2-6, 8, 11, 12, 14, 15, 17, 22, 37, 45, 54, 56, 59

Texte mit westfälischen Kennformen (11)

Nr. 1, 7, 10, 14, 17, 22-24, 26, 34, 54

Texte mit elbostfälisch-südmärkischen Kennformen (7)

Nr. 3, 4, 12, 27, 33, 55, 59

Texte mit ostelbisch-südmärkischen Kennformen (1)

Nr. 30

Detaillierte Analysen des Sprachstandes der einzelnen Lieder des "Rostocker Liederbuchs" auf der Grundlage des Merkmalskatalogs von Robert Peters finden Sie hier.

Die Texte des "Rostocker Liederbuchs" sind ohne Beischriften eingetragen worden, in denen Autoren genannt werden. Allerdings kann die Autorschaft in manchen Fällen erschlossen werden.

Die Lieder Nr. 5 und Nr. 11 nennen die Namen der Verfasser im Text:

  • Hinrick Sticker: Nr. 5 (V. 81)
  • Peter von Strazeborgh: Nr. 11 (V. 31)

Im Falle weiterer Lieder kann die Autorschaft über die Parallelüberlieferung erschlossen werden:

  • Der Mönch von Salzburg (Nr. 9)
  • Oswald von Wolkenstein (Nr. 19)
  • Philippe de Vitry (Nr. 60)