"Aflat vnde gnaden der kerken to rome"
Textinformationen
Nummer im RLB: 59
Blattnummer: 41r–42v
Texttyp: Nichtsanglicher Text – Prosastück (2.5)
Inhalt: Fragmentarischer Bericht über die Kirchen von Rom und ihren Ablass in niederdeutscher Prosa; es handelt sich um eine niederdeutsche Version der "Indulgentiae ecclesiarum urbis Romae". Die Beschreibung bricht mitten in den Ausführungen zur ersten Hauptkirche, San Giovanni in Laterano, ab.
Schreiberhand: 1; Hauptschreiber, Kursive
Autor: Keine Autorinformationen vorhanden.
Melodieaufzeichnung: Keine Melodie überliefert.
Notationstyp: –
Textabdruck
Ranke/Müller-Blattau (1927) – S. 275 [83]
Aflat vnde gnaden
der kerken to rome.
Sunte ſilueſter vnd gregorius beſchriuen in erer Croniken, dat to rome ſin gheweſt vif hundert vnd viff kerken, dar nü dat meiſte del van vor ſtoret is. vet welken kerken hebben de hilgen paweſte vte koren ſoüen houet kerken, de dar beſunderen mit grotem aflate begnadet ſin. – De erſte houet kerke is to ſunte Johan latran vnd is en houeth kerke aller kerken in der kriſtenheit. Vnd men ſcal weten, welke tijd en minſche kummet in de ſuluen kerken, ſo vor denet he xLviij iar aflates Vnd ſo vele karinen Vnd dat drudde deel vorgheuinge aller ſunde. Item pawes ſilueſter vnd ſunte gregorius de de kerken [. . . . . . .] dar ſo vel aflates to ghegheuen dat dat nem[ant] weten mach ſunder god alleyne. dat betuget pawes bonifacius vnd ſprikt alſus: wüſten de lude dat aflat dat dar is to ſunte johan latran, ſe en dorſten nicht gan to dem hilgen graue. Ok ſprikt pawes bonifacius: welk minſche kummet in de kerken an dem dage des ſalichmakers vnd is de neghede dach des neghede manen, an dem dage wart de kerke erſt ghewiget, ſo is dar aflat van allen ſunden. In der kerken is en cappelle de het ſacrista, dar ynne is dat altar dat dar hadde ſunte Johannes baptiſta in der wuſtenye vnde dar is ok de tafele, dar chriſtus [. . . . . . . . . . . . . . . .] ſinen jungeren vnde dar is de rod[e] moiſi vnd aaron. De hebben ghebrocht van iheruſalem tytus vnd veſpaſianus. mit den eren ſulen de dar ſtan bi dem hogen altar. Item vp dem hogen altar ſta[n] de houede ſunte peters vnde pawels vnd wan men de wiſet, ſo is dar ſo grot aflat alſo w[an] men wiſet de vroniken to ſunte peter. Item vp dem anderen alt[ar] ſunte marien magdalenen ſtan de houet van pancracien vnd van zacharien, de ſchulder van ſunte laurens vnd ſunte Johannes baptiſten haren vnde ſin harne cleit dat he hadde in der wuſtenie, vnd van den viff broden dar chriſtus mede ſpiſede vif tuſent menſchen. Vnde dat purpur[far clei]t chriſti vnde dat tuch dar chriſtus mede drogede de fute ſinen jungeren an dem auend eten, vnd ſunte iohann ewangeliſten rock vnd de nap dar he ut dranck dat vorghift. vnd dar is ok eyn capelle de heit ſancta ſanctorum, dar is dat antlat chriſti dat is dar van dem hymmel komen bi den ſyden ſunte lucas vnd dar is alle ſonnauende aflat van allen ſunden. Conſtancius de keiſer ſprack to ſunte ſiluester: Vader ſee, myn hus hebbe ik in de ere godes ghegheuen, dar ghiff in dinen hilgen ſeghen, alle den yennen de dar in komen jrloſinghe van eren ſunden. Do antworde om ſunte ſiluester vnd ſprack: vnſe [here] chriſtus de di irloſet het van [dynen] ſunden de mote erloſen
[Ende von 42v. Der Rest des Stückes fehlt.]
Claussen (1919)
Nicht vorhanden.
Sprachstand
H/N
In der Aufzeichnung des mittelniederdeutschen Prosastücks Nr. 59 finden sich neben überregional verbreiteten Varianten südmärkische und ostfälische Kennformen. Eine weitere Form könnte hochdeutsch beeinflusst sein.
Die Personalpronomen vnse 'unser' (Z. 33) und di 'dir' (Z. 34), die auf Dativbasis realisiert sind, waren mit Ausnahme des Ostf. im gesamten nd. Gebiet gebräuchlich. Hingegen charakterisiert die Form hebben 'haben' (Z. 3) als Variante des verbalen Einheitsplurals im Präsens Indikativ, die auf -en ausgeht, vornehmlich die ostnd. Dialekte.
Vor diesem Hintergrund sind die Formen ghewest 'gewesen' (Z. 2) und menschen 'Menschen' (Z. 25), die in südm. und westl./westf. Schriftzeugnissen zu finden sind, wohl eher auf südm. Einfluss zurückzuführen. Damit nicht genug, handelt es sich auch bei der Verbalvariante het 'hat' (Z. 34) um eine südm. Kennform, obgleich hier zu berücksichtigen ist, dass diese Form auch im benachbarten elbostf. Gebiet verbreitet war.
Die Pronominalvariante om 'ihm' (Z. 33) mit gerundetem Vokal im Anlaut ist die einzige ostf. Kennform im Text. Als solche steht sie allerdings neben den mnd. Normalformen erer 'ihrer' (Z. 1) und eren 'ihren' (Z. 33) ohne Rundung. Weitaus unspezifischer als das ostf. om sind die Varianten suluen 'selben' (Z. 6) und drudde 'dritte' (Z. 7), denn sie kamen sowohl im ostf. als auch im nordnd. Gebiet vor.
Die Form tusent 'tausend' (Z. 25) mit graphischer Realisierung eines stimmlosen Verschlusslautes im Anlaut ist hd. beeinflusst (vgl. mnd. dusent).
Liste der Kennformen
Z. 2 | ghewest | 'gewesen' | Südmärkisch, Westen (Peters 2.1.10.3.) |
Z. 3 | hebben | 'haben' | Ostniederdeutsch (Peters 2.1.1.) |
Z. 6 | suluen | 'selben' | Nordniederdeutsch, Ostfälisch (Peters 4.5.4.4.) |
Z. 7 | drudde | 'dritte' | Nordniederdeutsch, Ostfälisch (Peters 4.4.9.) |
Z. 18 | hebben | 'haben' | Ostniederdeutsch (Peters 2.1.1.) |
Z. 25 | tusent | 'tausend' | Hochdeutsch |
Z. 25 | menschen | 'Menschen' | Südmärkisch, Westfälisch (Peters 4.2.2.1.) |
Z. 33 | om | 'ihm' | Ostfälisch (Peters 4.5.1.9.) |
Z. 33 | vnse | 'unser' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
Z. 34 | di | 'dir' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
Z. 34 | het | 'hat' | Elbostfälisch, Südmärkisch (Peters 2.1.8.1.) |
Einspielungen
Keine Einspielungen vorhanden.
Parallelüberlieferung
Überlieferung in Auswahl:
- Rostock, Universitätsbibliothek: Ms. theol. 40 in 8°, Bl. 52v–65v
- Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek: H B I 38, Bl. 113–120r
- Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek: Cod. brev. 61, Bl. 95r–105r
- Trier, Stadtbibliothek: Cod. 830/1370 8°, Bl. 105r–126r
- Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek: Cod. 1130 Helmst., Bl. 36r–41r
Literatur
Classen, Albrecht: Deutsche Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster [u.a.] 2001 (= Volksliedstudien. 1). S. 270, 275.
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S[chröder], E[dward]: Rezension zu: Rostocker Niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478. herausgegeben von Bruno Claussen, mit einer auswahl der melodien bearbeitet von Albert Thierfelder, buchschmuck von Thuro Balzer. Rostock, Hinstorff 1919. In: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Litteratur. 40. 1921. S. 149–151, hier: S. 149.