"[Ich ghinck wol by der nacht]"

Textinformationen

Nummer im RLB: 36 (Claussen: 30)

Blattnummer: 29r/v

Texttyp: Register III – Schwanklied (1.4.2)

Inhalt: Schwanklied mit einer Anleihe bei der Tradition der Serena, mnd. Variante der sog. 'Nachtfahrt': Ein Ich-Sprecher bittet um Einlass bei seiner Geliebten. Dieser Wunsch wird ihm erfüllt, nachdem er mehrfach geschworen hat, sich der Dame ganz zu übereignen und auch 100 Gulden für sie zu bezahlen. Beim Eintritt in die Kammer fällt er aber über einen Klotz und bricht sich eine Rippe.

Schreiberhand: 1; Hauptschreiber, Kursive

Autor: Keine Autorinformationen vorhanden.

Melodieaufzeichnung: Keine Melodie überliefert.

Notationstyp:

Textabdruck

Ranke/Müller-Blattau (1927) – S. 254 [62]f.

[Ich ghinck wol by der nacht]
[de nacht was alſo duſter]
[dat] ik nicht en ſach.

Ich qwam vor leües dor.
de dor de was gheſloten,
de gryndel was dar vor.

Ich kloppede alſo lyſe
mit enem vingherkyn:
ſtand vp, holder bolekyn
vnd lat mich to dich in!

"Ich late dich nicht yn,
du ſwereſt my to den hilghen,
du willeſt myn eghen ſyn."

Trud leueken, lat mich yn!
lat dat dich entbarmen,
dat ich vor vroren byn!

"Ich late dich nicht yn,
du swereſt my to den hilghen,
du willeſt min eghen ſyn."

Tzart leueken, lat mich yn!
ich hebbe noch hundert gulden,
de ſcholen dyn eghen ſyn.

[ . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . ]
[de let] mich to ſich yn.

Do vel ich ouer enen bloch,
al in dem liue en ribbe en twey
vnde in dat houet en loch.

Trud leueken, makes nicht langh:
is dat bedde vor druncken,
we ſlapen wol up der banck.

Claussen (1919) – S. 53f.

[Jk gingk mal bi der nacht]
[........................................]
[.....] ik nicht en ſam ſ[in]
[........................................]

Jch quam vor leves dor,
De dor de was gheſloten,
De gryndel was dar vor.

Jch kloppede alſo lyſe
Mit enen vingerkyn.
"Stand up holde bolekyn
Vnde lat mich to dich in."

"Jch late dich nicht yn,
Du ſwerſt my to den hilghen,
Du willeſt myn eghen ſyn."

"Trud leveken lat mich yn,
Lat dat dich entbarmen,
Dat ich vorvroren byn."

"Jch late dich nicht yn,
Du ſwerſt my to den hilghen,
Du willeſt min eghen ſyn."

"Tzart leveken lat mich yn,
Jch hebbe noch hundert gulden,
De ſcholen dyn eghen ſyn."

["Scholen ſe myn eghen ſyn]
[So wil ich dich vortruwen"]
[Vnde let] mich to ſich yn.

Do vel ich over enen bloch,
Al in dem live en ribbe entwey
Vnde in dat hovet en loch.

"Trud leveken, makes nicht langh,
Js dat bedde vordruncken,
Wi ſlapen wol up der banck.

Sprachstand

H/N

Bei grundsätzlich niederdeutschem Sprachstand mit nur sehr wenigen Kennformen enthält RLB 36 verhältnismäßig viele hochdeutsche Varianten.

Niederdeutsch

Die vereinzelten nd. Kennformen gesloten 'geschlossen' (V. 5) und ouer 'über' (V. 26) mit o-Graphie zur Realisierung des tonlangen o indizieren eine westnd., d. h. ostf. oder westf. Prägung des Sprachstandes.

Hochdeutsch

Zu den hd. Varianten zählen die Personalpronomen ich (V. 4, 7, 11, 16, 17, 21, 26), mich (V. 10, 14, 20, 25) sowie dich (V. 10, 11, 15, 17). Abgesehen von dich in Vers 10, das als hd. Akkusativform entsprechend des nd. pronominalen Einheitskasus in Dativstellung steht und deshalb eine hd.-nd. Hybridform darstellt, ist eine deutliche Tendenz zur hd. Kasustrennung zu erkennen: Die hd. Akkusative mich und dich wurden ausschließlich in Akkusativposition verwendet, die wenigen nd. Dative (my in Vers 12 und 18) hingegen in Dativposition.
Auch bei den Endreimpartnern bloch 'Block' und loch 'Loch' (V. 26, 28) sowie bei der Variante syn 'sein' (V. 13, 19, 22) handelt es sich um hd. Formen.

Liste der Kennformen

V. 4 Ich 'ich' Hochdeutsch
V. 5 gesloten 'geschlossen' Ostfälisch, Westfälisch (Peters 1.2.2.)
V. 7 Ich 'ich' Hochdeutsch
V. 10 mich 'mich' Hochdeutsch
V. 10 dich 'dich' Hybridform
V. 11 Ich 'ich' Hochdeutsch
V. 11 dich 'dich' Hochdeutsch
V. 12 my 'mir' Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4)
V. 13 syn 'sein' Hochdeutsch (Peters 2.1.10.3.)
V. 14 mich 'mich' Hochdeutsch
V. 15 dich 'dich' Hochdeutsch
V. 16 ich 'ich' Hochdeutsch
V. 17 Ich 'ich' Hochdeutsch
V. 17 dich 'dich' Hochdeutsch
V. 18 my 'mir' Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4)
V. 19 syn 'sein' Hochdeutsch (Peters 2.1.10.3.)
V. 20 mich 'mich' Hochdeutsch
V. 21 ich 'ich' Hochdeutsch
V. 22 syn 'sein' Hochdeutsch (Peters 2.1.10.3.)
V. 25 mich 'mich' Hochdeutsch
V. 26 ich 'ich' Hochdeutsch
V. 26 ouer 'über' Ostfälisch, Westfälisch (Peters 1.2.2.)
V. 26 bloch 'Block' Hochdeutsch
V. 28 houet 'Haupt' (Kopf) Ostfälisch, Westfälisch (Peters 1.2.2.)
V. 28 loch 'Loch' Hochdeutsch
V. 31 wol 'wohl' Nordniederdeutsch, Ostfälisch (Peters 4.6.4.4.)

Einspielungen

Keine Einspielungen vorhanden.

Parallelüberlieferung

  • Oxford, Bodleian Library: Ms. Opp. Add 4° 136, S. 91
  • Wien, Kunsthistorisches Museum: Inv. Nr. 5410 (Ambraser Liederbuch), Nr. 259

Literatur

Alpers, Paul: Rezension zu: Rostocker Niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478. Her. von Bruno Claussen, mit einer Auswahl der Melodien bearbeitet von Albert Thierfelder. Buchschmuck von Thuw Balzer 1919. Rostock, Hinstorff. In: Zeitschrift für deutsche Mundarten. 15. 1920. S. 186–187, hier: S. 186–187.

Alpers, Paul (Hrsg.): Die alten niederdeutschen Volkslieder. Gesammelt und mit Anmerkungen herausgegeben von Paul Alpers. Hamburg 1924. S. 92–93, 229–230.

Alpers, Paul (Hrsg.): Alte niederdeutsche Volkslieder mit ihren Weisen. 2. stark veränd. Aufl. Münster 1960. S. 88–89, 198, 214.

Classen, Albrecht: Deutsche Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster [u.a.] 2001 (= Volksliedstudien. 1). S. 274.

Claussen, Bruno: Über den Fund eines niederdeutschen Liederbuchs aus dem Ende des 15. Jahrh. in Rostock. In: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung. 35. 1915. 2/3. S. 18–24, hier: S. 23–24.

Claussen, Bruno (Hrsg.): Rostocker niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478. Herausgegeben von Bruno Claussen mit einer Auswahl der Melodien bearbeitet von Albert Thierfelder. Buchschmuck von Thuro Balzer. Rostock 1919. S. 53–54, 78 A. 30.

Daebeler, Hans Jürgen: Musiker und Musikpflege in Rostock von der Stadtgründung bis 1700. Dissertation der Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Rostock. Rostock 1966. S. 182.

Gernentz, Hans Joachim: Niederdeutsch – gestern und heute. Beiträge zur Sprachsituation in den Nordbezirken der Deutschen Demokratischen Republik in Geschichte und Gegenwart. 2. völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Rostock 1980 (= Hinstorff Bökerie. 11). S. 216–219, 318.

Glagla, Helmut (Hrsg.): Das plattdeutsche Liederbuch. 123 niederdeutsche Volkslieder von der Frührenaissance bis ins 20. Jahrhundert. 2., verbesserte Auflage. München / Zürich 1982 (= Artemis Bücher zur Musik). S. 51, 268.

Heydeck, Kurt: Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Rostock. Beschrieben von Kurt Heydeck. Wiesbaden 2001 (= Kataloge der Universitätsbibliothek Rostock. Erster Band: Die mittelalterlichen Handschriften). S. 131.

Holtorf, Arne: 'Rostocker Liederbuch'. In: Ruh, Kurt / Wachinger, Burghart (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben von Kurt Ruh zusammen mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger, Franz Josef Worstbrock. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin / New York 1978–2008. Bd. 8. Sp. 253–257, hier: Sp. 255.

Holzapfel, Otto: Liedverzeichnis. Die ältere deutschsprachige, populäre Liedüberlieferung (in Zusammenarbeit mit dem Volksmusikarchiv des Bezirks Oberbayern, Bruckmühl). Hildesheim [u.a.] 2006. S. 777–780.

Holznagel, Franz-Josef: Das 'Rostocker Liederbuch' und seine neue kritische Edition. Unter Mitarbeit von Andreas Bieberstedt, Udo Kühne und Hartmut Möller. In: Niederdeutsches Jahrbuch. 133. 2010. S. 45–86, hier: S. 55, 56 A. 39.

Holznagel, Franz-Josef: Rostocker Liederbuch. In: Kühlmann, Wilhelm (Hrsg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollst. überarb. Aufl. Berlin / Boston 2008–2102. Band 10. 2011. S. 35–36, hier: S. 35–36.

Holznagel, Franz-Josef: Songs and Identities. Handwritten Secular Songbooks in German-Speaking Areas of the Fifteenth and Sixteenth Centuries. In: Poel, Dieuwke van der / Grijp, Louis Peter / Anrooij, Wim van (Hrsg.): Identity, Intertextuality, and Performance in Early Modern Song Culture. Leiden, Boston 2016 (= Intersections. 43). S. 118-149, hier: S. 133.

Lietz, Hanno (Hrsg.): Bruno Claussen an der Universitätsbibliothek Rostock. 1912–1949. Rostock 1995 (= Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek Rostock. 121). S. 57.

Petzsch, Christoph: Zur Vorgeschichte der Stammbücher. Nachschriften und Namen im Königsteiner Liederbuch. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. 222. 1985. S. 273–292, hier: S. 278 A. 21.

Ranke, Friedrich / Müller-Blattau, Joseph M. (Hrsg.): Das Rostocker Liederbuch nach den Fragmenten der Handschrift neu herausgegeben von Friedrich Ranke und J. M. Müller-Blattau. Halle (Saale) 1927 (= Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse. 4. Jahr. Heft 5), S. 195–200, 213, 254–255, 285–286.

Schwanholz, Wilfried: Volksliedhafte Züge im Werk Oswalds von Wolkenstein. Die Trinklieder. Frankfurt a. M. 1985 (= Germanistische Arbeiten zur Sprache und Kulturgeschichte. 6). S. 117, 165, 197, 243.

Spiewok, Wolfgang: Das "Rostocker Liederbuch". In: Almanach für Kunst und Kultur im Ostseebezirk. 9. 1986. S. 65–70, hier: S. 69–70.

Spiewok, Wolfgang: Das Rostocker Liederbuch. In: Spiewok, Wolfgang / Buschinger, Danielle (Hrsg.): Mittelalter-Studien II. Göppingen 1989. S. 310–321, hier: S. 318–320.

Spiewok, Wolfgang: Das Rostocker Liederbuch. In: Spiewok, Wolfgang (Hrsg.): Mittelalterliche Literatur up plattdütsch. Greifswald 1998. S. 65–75, hier: S. 73–74.

Touber, Anthonius H.: Deutsche Strophenformen des Mittelalters. Stuttgart 1975 (= Repertorien zur deutschen Literaturgeschichte. 6). S. 39.