"Wil gi horen enen sanck"
Textinformationen
Nummer im RLB: 34 (Claussen: 28)
Blattnummer: 28r
Texttyp: Register II – Tagelied (1.3.3)
Inhalt: Abschiedsklage eines Ich-Sprechers, der nach einer Liebesbegegnung der geliebten Dame hinterherblickt, die von ihm wegreitet. Der Text steht vermutlich in der (nur schwach ausgebildeten) Tradition von Tageliedern, bei denen die Frau (und nicht der Mann) morgens aufbrechen muss.
Schreiberhand: 1; Hauptschreiber, Kursive
Autor: Keine Autorinformationen vorhanden.
Melodieaufzeichnung: Keine Melodie überliefert.
Notationstyp: –
Textabdruck
Ranke/Müller-Blattau (1927) – S. 252 [60]f.
Item.
Wil gi horen enen ſanck
van ener de my hat vmmevanghen?
al tijt mot my na er vor langhen,
ene korte wyle de is nicht langh.
Se hat my ghevanghen an eren ſtrick,
ik hope ſe late my nicht vor deruen.
ach god, mochte ik er hulde vor weruen,
dat ſe my gheue en fruntlik oghenblick!
So were vorſwunden al myn pyn.
ſolde ik dat dan van gode vorweruen,
dat he my lete des dodes ſteruen?
myn herte quam nü in grotter noet.
Do ik ſe van my riden ſach
vnd ik er nicht konde to ſpreken,
myn herte wil mi an duſent ſtucke tobreken
an enem venſter dar ik ane lach.
Des dachte ik an dem ſynne myn:
herte leff, nü du van mir wilt ſcheyden,
de ryker got de moet di gheleyden,
myn herte ſal jummer ſtede by dy ſyn etc.
Claussen (1919) – S. 50f.
Wil gi horen enen ſanck
Van ener, de my hat vmmvanghen,
Al tit mot my na er vorlanghen,
Ene korte wyle de is nicht langh.
Se hat my ghevanghen an eren ſtrick,
Jk hope ſe late my nicht vorderven,
Ach god, mochte ik er hulde vorwerven,
Dat ſe my gheve en fruntlik oghenblick.
So were vorſwunden al myn pyn,
Solde ik dat dan van gode vorwerven,
Dat he my lete des dodes ſterven,
Myn herte quam nü in grother noet.
Do ik ſe van my riden ſach
Unde ik er nicht konde to ſpreken,
Myn herte wil mi an (duſent) ſtucke tobreke,
An enen venſter dar ik ane lach.
Des dachte ik an den ſynne myn,
Hert leff, nu du van mir wilt ſcheyden,
De ryker got de moet di gheleyden,
Myn herte ſal jummer ſtede by dy ſyn.
Sprachstand
H/N
RLB 34 ist mittelniederdeutsch mit einem Merkmalsbündel, das insgesamt auf das Westfälische deutet. Vereinzelt finden sich hochdeutsche Varianten.
Charakteristisch für das Westf. ist zum einen die Graphie <o> in konde 'konnte' (V. 14), wo im übrigen nd. Gebiet <u> realisiert wurde, und zum anderen die s-Graphie im Anlaut von sal 'soll' (V. 20) anstelle der sonst üblichen Schreibungen <sc> und <sch>. Formen mit o-Graphie zur Wiedergabe des tonlangen o – hier repräsentiert durch die Variante gode 'Gott' (V. 10) – kamen sowohl im Westf. als auch im Ostf. vor. Zu der skizzierten Befundlage passt der beinah ausschließliche Gebrauch der Varianten my bzw. mi 'mir' (V. 2, 3, 5, 6, 8, 11, 13, 15) und dy bzw. di 'dir' ( V. 19, 20). Sie belegen die Geltung des pronominalen Einheitskasus auf Dativbasis, der im Westf. und daneben auch im Nordnd. und Südm. galt. Er wurde darüber hinaus auch zum Kennzeichen der lüb. Kanzleischreibsprache.
Belege für hd. Einflussnahme liegen mit den Varianten hat 'hat' (V. 2, 5), dem auf Liquid auslautenden Pronomen mir (V. 18) sowie mit der Infinitivform syn 'sein' (V. 30) vor.
Liste der Kennformen
V. 2 | my | 'mir' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
V. 2 | hat | 'hat' | Hochdeutsch |
V. 3 | my | 'mir' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
V. 5 | hat | 'hat' | Hochdeutsch |
V. 5 | my | 'mir' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
V. 6 | my | 'mir' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
V. 8 | my | 'mir' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
V. 10 | gode | 'Gott' | Ostfälisch, Westfälisch (Peters 1.2.2.) |
V. 11 | my | 'mir' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
V. 12 | grotter | 'großer' | Nordniederdeutsch, Ostfälisch (Peters 1.2.3.) |
V. 13 | my | 'mir' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
V. 14 | konde | 'konnte' | Westfälisch (Peters 2.1.9.2.) |
V. 15 | mi | 'mir' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
V. 18 | mir | 'mir' | Hochdeutsch |
V. 19 | di | 'dir' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
V. 20 | sal | 'soll' | Westfälisch (Peters 2.1.9.3.) |
V. 20 | dy | 'dir' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
V. 30 | syn | 'sein' | Hochdeutsch (Peters 2.1.10.3.) |
Einspielungen
Keine Einspielungen vorhanden.
Parallelüberlieferung
Keine Parallelüberlieferung bekannt.
Literatur
Beckers, Hartmut: Mittelniederdeutsche Literatur. Versuch einer Bestandsaufnahme (III). In: Niederdeutsches Wort. 19. 1979. S. 1–28, hier: S. 11.
Classen, Albrecht: Deutsche Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster [u.a.] 2001 (= Volksliedstudien. 1). S. 273–274.
Claussen, Bruno: Über den Fund eines niederdeutschen Liederbuchs aus dem Ende des 15. Jahrh. in Rostock. In: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung. 35. 1915. 2/3. S. 18–24, hier: S. 23.
Claussen, Bruno (Hrsg.): Rostocker niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478. Herausgegeben von Bruno Claussen mit einer Auswahl der Melodien bearbeitet von Albert Thierfelder. Buchschmuck von Thuro Balzer. Rostock 1919. S. 50–51.
Daebeler, Hans Jürgen: Musiker und Musikpflege in Rostock von der Stadtgründung bis 1700. Dissertation der Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Rostock. Rostock 1966. S. 182.
Heydeck, Kurt: Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Rostock. Beschrieben von Kurt Heydeck. Wiesbaden 2001 (= Kataloge der Universitätsbibliothek Rostock. Erster Band: Die mittelalterlichen Handschriften). S. 131, 454.
Holznagel, Franz-Josef: Das ‚Rostocker Liederbuch‘ und seine neue kritische Edition. Unter Mitarbeit von Andreas Bieberstedt, Udo Kühne und Hartmut Möller. In: Niederdeutsches Jahrbuch. 133. 2010. S. 45–86, hier: S. 54, 56 A. 38.
Holznagel, Franz-Josef: Rostocker Liederbuch. In: Kühlmann, Wilhelm (Hrsg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollst. überarb. Aufl. Berlin / Boston 2008–2102. Band 10. 2011. S. 35–36, hier: S. 35–36.
Holznagel, Franz-Josef: Songs and Identities. Handwritten Secular Songbooks in German-Speaking Areas of the Fifteenth and Sixteenth Centuries. In: Poel, Dieuwke van der / Grijp, Louis Peter / Anrooij, Wim van (Hrsg.): Identity, Intertextuality, and Performance in Early Modern Song Culture. Leiden, Boston 2016 (= Intersections. 43). S. 118-149, hier: S. 133.
Lang, Margarete (Hrsg.): Ostdeutscher Minnesang. Auswahl und Übertragung von Margarete Lang. Melodien herausgegeben von Walter Salmen. Lindau / Konstanz 1958 (= Schriften des Kopernikuskreises. 3). S. 18, 84–85, 124.
Lietz, Hanno (Hrsg.): Bruno Claussen an der Universitätsbibliothek Rostock. 1912–1949. Rostock 1995 (= Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek Rostock. 121). S. 57.
Ranke, Friedrich / Müller-Blattau, Joseph M. (Hrsg.): Das Rostocker Liederbuch nach den Fragmenten der Handschrift neu herausgegeben von Friedrich Ranke und J. M. Müller-Blattau. Halle (Saale) 1927 (= Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse. 4. Jahr. Heft 5), S. 195, 197–200, 252–253, 285.
Rieschel, Hanspeter: Die alten niederdeutschen Lieder des Rostocker Liederbuches. In: Deutsche Musikkultur. 3. 1938/1939. S. 472–477, hier: S. 475.
Touber, Anthonius H.: Deutsche Strophenformen des Mittelalters. Stuttgart 1975 (= Repertorien zur deutschen Literaturgeschichte. 6). S. 39.