"Men horet an des meyen sale"

Textinformationen

Nummer im RLB: 22 (Claussen: 21)

Blattnummer: 21r/v

Texttyp: Register I – Werbelied (1.3.1)

Inhalt: Minneklage und Frauenpreis. Der Text schildert drei Phasen der Annäherung an die Dame: die Klage über die unerfüllte Liebe, dann die Ansprache an die Frau Venus, in der der Wunsch geäußert wird, dass die Dame den Ich-Sprecher erhören möge, und schließlich den Hinweis auf die Erfüllung der Wünsche.

Schreiberhand: 1; Hauptschreiber, Kursive

Autor: Keine Autorinformationen vorhanden.

Melodieaufzeichnung: Keine Melodie überliefert.

Notationstyp:

Textabdruck

Ranke/Müller-Blattau (1927) – S. 242 [50]f.

Item aliud.

Men horet an des meyen ſale
al up dem berghe vnde an dem dale
voghelyn vnde wedder ſtrid:
Kalander, droſelen, nachtegale
er ſtemmen de klynghen altomale,
ſe ſynd mengher ſorghe quid.
ſe vrowen ſick der leuen tijd.
Noch ſo moet ik droüich alden,
dat ſe ſick nicht to mir wil halden,
[. . . .] dar al min heyl an lijd.

Venus, vrowe meſterynne,
dorch dyne [. . . . . .]
[. . . . . . . . .] an den dot ghewund.
Du benympſt min herte vnd al myne ſynne,
dat ik aldus vor brynne,
dat doet din wunnichlike roter mund.
Wolde ſick de ghute noch bedencken
vnd nemen mir to enen ſteden knechte
vnd entfan to dancke an korter ſtund!

De leue qwam mit ſachten worden,
ſe brachte mir an ſulken orden,
dar mi vrowede wart bekant.
dat herte min wart or en pant.
Vp ſlot ſe der ſalden ene porte,
herte vnde ſynne ſick dar to ro〈r〉ten
myneme leue alto hand.
Se nam dat an eres ſulues leüe,
ſe en wolde dar nenen boden ſenden,
aldus der leuen vant.

Claussen (1919) – S. 36f.

Men horet an des meyen ſcal
Al up dem berghe vnde an dem dale
Voghelyn vnde wedderſtrid,
Kalander, droſelen, nachtegalen
Er ſteme de klynghen altomale,
Se ſynd nu ere ſorghen quid,
Se vrowen ſyck der leven tijd.

Noch ſo moet ik drovich alden,
Dat ſe ſick nicht to mir wil halden,
De dar al min heyl an lijd.
Venus, vrowe meſteryne,
Dorch dynen willn ik dot ghewinne,
Du benympſt my herte vnde al myne ſynne,
Dat ik aldus vorbrinne,
Dat doet din wunnichlike roter mund.

Wolde ſick de ghute noch bedencken
Unde nemen mir to enem ſteden knechte
Und entfan to danck(e) an korter ſtund,
De leve quam mit ſachten worden,
Se brachte mir an ſulken orden
Dar mi vrowede wart bekant,
Dat herte min wart er en pant.

Up ſlot ſe der ſalden ene porte,
Herte vnde ſynne ſyck dar to ro[r]ten
Myneme leve alto hand,
Se nam dat an eres ſulves henden,
Se en wolde dar nenen boden ſenden
Aldus der leven pant.

Sprachstand

H/N

RLB 22 ist mittelniederdeutsch mit einer Reihe von westniederdeutschen Kennformen. Vereinzelt finden sich darüber hinaus hochdeutsch beeinflusste hybride und hyperkorrekte Varianten.

Westniederdeutsch

Charakteristisch für die westnd. Varietäten des 15. Jahrhunderts, gemeint sind das Ostf. und das Westf., ist die Schreibung <o> für gedehntes o in offener Tonsilbe, und zwar bei boden 'Boten' (V. 29) sowie in vrowen 'freuen' (V. 7) und vrowede 'Freude' (V. 23). Im Nordnd. hatte sich in der genannten Position bereits in der Mitte des 15. Jahrhunderts die Schreibung <a> durchgesetzt. Als typisch ostfl. Kennform gilt des Weiteren die Variante or 'ihr' (V. 24) mit gerundetem Vokal im Anlaut. Hingegen liegt mit do(e)t 'tut' (V. 17) eine eindeutig westfl. Variante vor. Die Formen alden 'altern' (V. 8) und halden 'halten' (V. 9) mit unverdumpftem Stammvokal könnten ausgehend von dieser Befundlage als elbostfl. oder südwestfl. bestimmt werden. Ungeachtet der markanten westnd. Färbung finden sich jedoch auch Formen wie klynghen 'klingen' (V. 5) und vrowen 'freuen' (V. 7) in RLB 22. Varianten wie diese, mit der Flexionsendung -en im Plural Präsens Indikativ, gelten als Kennformen der ostnd. Varietäten; sie wurden darüber hinaus in der lübischen Kanzleischreibsprache bevorzugt verwendet und fanden auf diese Weise auch in den Gebieten westl. der Elbe Verbreitung.

Hochdeutsch

RLB 22 enthält einige hd. beeinflusste Varianten, die jedoch fast sämtlich als hd.-nd. Hybridformen anzusprechen sind. Auf morphologischer Ebene ist etwa die Form voghelyn 'Vöglein' (V. 3) mit der hd. Diminutivendung -lyn anstelle der nd. Entsprechung -ken eindeutig hd. geprägt. Auf graphischer Ebene allerdings deutet die Schreibung <gh> nd. Einfluss an. Ähnlich verhält es sich mit der Variante ghute 'gute' (V. 18): Auch hier deutet die Schreibung <gh> auf das Nd., wohingegen die Schreibung <t> den hd. stimmlosen Plosiv /t/ reflektiert.

Die Form vor brynne 'verbrenne' (V. 16) ist mit dem typisch nd. Präfix vor anstelle des hd. Äquivalents ver gebildet, zeigt jedoch mit der <y>-Graphie für /i/ im Wortstamm und einem dem Stammvokal vorangehenden Liquid r (vgl. mhd. brinnen) hd. Lautstand. Die Vokalqualität der Reimpartner zu vor brynne – in Vers 12 mesterynne, in Vers 15 synne – belegt, dass es sich bei dem Endreim um einen genuin hd. Reim handeln muss, der aufgrund der varianten Realisierung von 'brennen' im Nd. nicht möglich gewesen wäre (vgl. mnd. bernen).

Bei der Variante mir 'mir' (V. 9, 19, 20) handelt es sich mit Ausnahme ihrer Verwendung in Vers 9 um eine hyperkorrekte Form. Zwar ist das Formativ für das Personalpronomen der 1. Singular Dativ mit Liquid im Auslaut hd., doch wird es in Vers 19 und 20 in Akkusativposition verwendet und entspricht damit nicht den Regeln der frühneuhochdeutschen Grammatik.

Liste der Kennformen

V. 3 voghelyn 'Vöglein' Hybridform
V. 3 wedder 'wider' Nordniederdeutsch, Ostfälisch (Peters 1.2.3.)
V. 5 klynghen 'klingen' Ostniederdeutsch (Peters 2.1.1.)
V. 7 vrowen 'freuen' Ostfälisch, Westfälisch (Peters 1.2.2.)
V. 7 vrowen 'freuen' Ostniederdeutsch (Peters 2.1.1.)
V. 8 alden 'altern' Elbostfälisch, Geldrisch-Kleverländisch, Südwestfälisch (Peters 1.1.2.)
V. 9 mir 'mir' Hochdeutsch
V. 9 halden 'halten' Elbostfälisch, Geldrisch-Kleverländisch, Südwestfälisch (Peters 1.1.2.)
V. 16 vor brynne 'verbrenne' Hybridform
V. 17 do(e)t 'tut' Westfälisch (Peters 2.1.10.2.)
V. 18 ghute 'gute' Hybridform
V. 19 mir 'mir' Hyperkorrekte Form
V. 22 mir 'mir' Hyperkorrekte Form
V. 23 mi 'mir' Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4)
V. 23 vrowede 'Freude' Ostfälisch, Westfälisch (Peters 1.2.2.)
V. 24 or 'ihr' Ostfälisch (Peters 4.5.1.13.)
V. 29 boden 'Boten' Ostfälisch, Westfälisch (Peters 1.2.2.)

Einspielungen

Keine Einspielungen vorhanden.

Parallelüberlieferung

Keine Parallelüberlieferung bekannt.

Literatur

Classen, Albrecht: Deutsche Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster [u.a.] 2001 (= Volksliedstudien. 1). S. 272.

Claussen, Bruno: Über den Fund eines niederdeutschen Liederbuchs aus dem Ende des 15. Jahrh. in Rostock. In: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung. 35. 1915. 2/3. S. 18–24, hier: S. 23.

Claussen, Bruno (Hrsg.): Rostocker niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478. Herausgegeben von Bruno Claussen mit einer Auswahl der Melodien bearbeitet von Albert Thierfelder. Buchschmuck von Thuro Balzer. Rostock 1919. S. VIII, 36–37, 77–78 A. 21.

Daebeler, Hans Jürgen: Musiker und Musikpflege in Rostock von der Stadtgründung bis 1700. Dissertation der Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Rostock. Rostock 1966. S. 182.

Heydeck, Kurt: Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Rostock. Beschrieben von Kurt Heydeck. Wiesbaden 2001 (= Kataloge der Universitätsbibliothek Rostock. Erster Band: Die mittelalterlichen Handschriften). S. 130, 445.

Holtorf, Arne: 'Rostocker Liederbuch'. In: Ruh, Kurt / Wachinger, Burghart (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben von Kurt Ruh zusammen mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger, Franz Josef Worstbrock. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin / New York 1978–2008. Bd. 8. Sp. 253–257, hier: Sp. 256.

Holznagel, Franz-Josef: Das 'Rostocker Liederbuch' und seine neue kritische Edition. Unter Mitarbeit von Andreas Bieberstedt, Udo Kühne und Hartmut Möller. In: Niederdeutsches Jahrbuch. 133. 2010. S. 45–86, hier: S. 55.

Holznagel, Franz-Josef: Rostocker Liederbuch. In: Kühlmann, Wilhelm (Hrsg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollst. überarb. Aufl. Berlin / Boston 2008–2102. Band 10. 2011. S. 35–36, hier: S. 35–36.

Holznagel, Franz-Josef: Songs and Identities. Handwritten Secular Songbooks in German-Speaking Areas of the Fifteenth and Sixteenth Centuries. In: Poel, Dieuwke van der / Grijp, Louis Peter / Anrooij, Wim van (Hrsg.): Identity, Intertextuality, and Performance in Early Modern Song Culture. Leiden, Boston 2016 (= Intersections. 43). S. 118-149, hier: S. 133.

Lietz, Hanno (Hrsg.): Bruno Claussen an der Universitätsbibliothek Rostock. 1912–1949. Rostock 1995 (= Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek Rostock. 121). S. 57.

Ranke, Friedrich / Müller-Blattau, Joseph M. (Hrsg.): Das Rostocker Liederbuch nach den Fragmenten der Handschrift neu herausgegeben von Friedrich Ranke und J. M. Müller-Blattau. Halle (Saale) 1927 (= Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse. 4. Jahr. Heft 5), S. 195–200, 242–243, 284.

Touber, Anthonius H.: Deutsche Strophenformen des Mittelalters. Stuttgart 1975 (= Repertorien zur deutschen Literaturgeschichte. 6). S. 39.