"Sind myr der gruß des wollust kam"
Textinformationen
Nummer im RLB: 21 (Claussen: 20)
Blattnummer: 20r–21r
Texttyp: Register III – Malmariée-Lied (1.4.4)
Inhalt: Chanson de malmariée: Dialog zwischen einem alten Ehemann und seiner jungen Frau, in dem die unterschiedlichen Ansprüche an die Ehe ausdiskutiert werden. Während der Alte von seiner Frau vor allem Pflegedienste erwartet, die er mit materiellen Gaben entlohnen möchte, beklagt die Junge, dass ihr Gatte die vor der Ehe angekündigte Virilität nicht aufzubringen vermag.
Schreiberhand: 3; Bastarda
Autor: Keine Autorinformationen vorhanden.
Melodieaufzeichnung: Keine Melodie überliefert.
Notationstyp: –
Textabdruck
Ranke/Müller-Blattau (1927) – S. 241 [49]f.
Sequitur aliud.
Sind myr der gruß des wolluſt kam,
do nam ich mich vil kortczwil an,
ſind ich dyr warth kyntlichen czam,
von nuenczig jaren eyn ſtolczer knab.
dar vmme ſo las genuegen dich:
der wil iſt gut, die werck ſind czam,
sind du mich hoſt erkennet nicht,
dy wil ich was vff sneller bann.
[ . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . ]
"kem ich dar czu, ich macht dyrs er.
das ſpil iſt mer denn halp vorlorn.
Eyn ſanfte ſpiße vnde weche bette
der beyder ich dyr wol wil gewern.
das obrige das las weßen wet,
wiltu myner hulde vnd frunthſchafft nicht entpern."
Vor ſluß dy thoer vnnd regel dy fenſter zcu,
der den〈ſt〉 myr wol gefallen sol.
die huſten dy habe ich ſpot vnde fru,
das kan dy jogent gewenden wol.
ſuch, ruck her czu vnde mach myr warm,
myn dinſt dyr ſchir zum ſtaden kommpt,
vnde slüs mich in din ſnewißen arm
vm rock vnde mantel, das es dyr frommt.
"Ab es myr fromet mantel vnde rock,
dennoch biſtu myr widder czem.
du leiſt by myr recht als eyn fawler ſtogk.
das ich vor alle dyn gabe nem,
das ſelben ich enperen muß.
do mit mir aller baſten wer
vnde brennget meyn . . . .
. . . . . . . . . . . .
Domit ich nu irßercket pin,
sind ich ken troſt andyr irfynde.
"ich lachet och, het ich gewin."
der ſchimpff der iſt myr gar zu ſwinde.
hyr vmme ich alleczit trawren sol,
des ich mich nicht yrweren kan.
"du ſprochſt, als du kundeſt wol,
vnde biſt des ſchympffs eyn armer man."
Claussen (1919) - S. 34–36
"Sind myr der gruß der wolluſt kam,
Do nam ich mich vil kortzwil an,
Sind ich dyr warth kyntlichen zam
Von nuenzig jaren eyn ſtolzer knab.
Darumme ſo las genugen dich,
Der wil iſt gut, die werck ſind tzam.
Sind du mich hoſt erkennet nicht
Dy wil ich was uff ſneller bann.
[.......................
.......................] erſweren,
Kem ich dar tzu, ich macht dyrs er,
Das ſpil iſt mer denn halp verlorn.
Eyn ſanfte ſpiſe vnde weche bette
Der beyder ich dyr wol wil gewern,
Das obrige das las weßen wet,
Wiltu myner hulde vnde fruntſchafft nicht entpern.
Vorſluß dy thor vnde regel dy fenſter zcu,
Der den(ſt) myr wol gefallen ſol,
Die huſten dy habe ich ſpet vnd fru,
Das kan dy iogent gewenden wol.
Such, ruck herzu, vnde mach myr warm,
Myn dinſt dyr ſehre zum ſtaden kompt
Und ſlus mich in din ſnewitten arm
Um rock vnde mantel, das es dyr frommt."
"Als es myr frommet mantel unde rock
Dennoch biſtu myr widder hem,
Du lerſt dy myr recht als eyn fawler ſtogk,
Das ich von alle eyn gabe nem,
Das ſelben ich enperen muß,
Do mit mir aller beſten wer
Unde brenget meyn[em hetzen luſt]
[Und ich darvon irſterket wer].
Domit ich nu irſtercket pin,
Sind ich ken troſt an dyr yrfinde.
Jch lachet och het ich gewin,
Der ſchimpff der iſt myr gar zu ſwinde.
Hyr umme ich allezit trawren ſol,
Des ich mich nicht yrweren kan,
Du ſprechest als du kundeſt wol
Unde bis des ſchimpff eyn armer man".
Sprachstand
H
Der Sprachstand von RLB 21 ist im Konsonantismus hochdeutsch und weist zudem charakteristische bairische Merkmale auf. Mit Blick auf den Vokalismus indiziert die Schreibung vielfach niederdeutschen Lautstand, woraus eine Reihe von hochdeutsch-niederdeutschen Hybridformen im Text resultiert.
Bairisch
Charakteristisch für die bairische Schreibsprache ist zum einen die Graphie <p> im Anlaut, wo das übrige hd. Gebiet <b> realisiert, und zwar bei entpern und enperen 'entbehren' (V. 16, 29) sowie bei pin 'bin' (V. 33). Zum anderen gilt auch die Realisierung von /i/ anstelle von /e/ vor <r> bei irßercket 'eingesargt' (V. 33), irfynde 'erfinde' (V. 34) sowie yrweren 'erwehren' (V. 38) als bairisches Kennzeichen.
Hybridformen
Zu den Formen mit nachweislich hd. Lautstand im Konsonantismus bei nd. Lautstand im Vokalismus zählen weche 'weich' (V. 13), obrige 'übrige' (V. 15), Vor sluß 'verschließ' (V. 17), tho(e)r 'Tür' (V. 17), jogent 'Jugend' (V. 20), slüs 'schließ' (V. 23), ken 'kein' (V. 34) und och 'auch' (V. 35). (Die betroffenen Konsonanten und Vokale sind fett markiert.)
Einen anderen, respektive morpho-syntaktischen Typ von Hybridität repräsentieren die Formen des wollust 'der Wollust' (V. 1) sowie myr 'mir' (V. 20). In der Nominalphrase indiziert der Genitiv Singular-Artikel des maskulines grammatisches Geschlecht, das fehlende Flexiv -(e)s bei wollust hingegen feminines. Im Hd. konnte wollust sowohl als Maskulinum als auch als Femininum gebildet werden, während es im Nd. feminines Geschlecht hatte. Die in RLB 21 vorliegende hybride Bildung könnte deshalb als Phänomen hd.-nd. Sprachmischung betrachtet werden.
Im zweiten Fall handelt es sich um eine Variante, die der Form nach dem hd. Personalpronomen der 1. Singular Dativ entspricht, der Verwendung in Akkusativstellung nach allerdings den Gebrauch des typisch nd. Einheitskasus der Personalpronomen im Dativ und Akkusativ anzeigt.
Niederdeutsche Formen
Neben den genannten Hybridformen finden sich auch solche, deren Schreibung insgesamt auf nd. Lautstand schließen lässt. Gemeint sind regel 'riegel' (V. 17), denst 'Dienst' (V. 18), sprochst 'sprachst' (V. 39) und widder 'wider' (V. 26) – letzteres mit der typisch nd. Doppelkonsonanz zur Kennzeichnung der Vokalkürzung im Wortstamm.
Besonderheiten in der Graphie
Ebenso wie RLB 19 und 20 enthält RLB 21 die spezifisch nd. Konsonantenhäufungen und -verbindungen <tcz>, <cz> und <zc> zur Wiedergabe der hd. Affrikata /ts/ (vgl. Lasch § 330, II.), und zwar in kortczwil 'Kurzweil' (V. 2), czam 'zahm' (V. 3, 6), nuenczig 'neunzig' (V. 4), stolczer 'stolzer' (V. 4), czu, zcu 'zu' (V. 11, 17, 21), widder czem 'widerwärtig' (V. 26) und alleczit 'allzeit' (V. 37). Hingegen wird der hd. stimmlose Frikativ /s/ mit den Zeichen <ß> und <s> realisiert, wie mit den Formen gruß 'Gruß' (V. 1), las 'lass' (V. 5, 15), Vor sluß 'verschließ' (V. 17), slüs 'schließ' (V. 23), snewißen 'schneeweißen' (V. 23), das 'das/dass' (V. 24, 28, 29) und muß 'muss' (V. 29) belegt werden kann. Der Schreiber bewies damit eine gewisse Kompetenz bei der schriftlichen Wiedergabe der unterschiedlichen hd. Verschiebeergebnisse von germ. (und nd.) Verschlusslaut /t/.
Liste der Kennformen
V. 1 | des wollust | 'der Wollust' | Hybridform (nd. der wollust, hd. des wollustes) |
V. 13 | weche | 'weiche' | Hybridform (nd. wêk, hd. weiche) |
V. 15 | obrige | 'übrige' | Hybridform (nd. overich, hd. überec) |
V. 16 | entpern | 'entbehren' | Bairisch (Paul § L 98, § E 26, 2.) |
V. 17 | Vor sluß | 'verschließ' | Hybridform (nd. vor slut, hd. versliez) |
V. 17 | tho(e)r | 'Tür' | Hybridform (nd. dor 'Tor', N., hd. tür 'Tür', F.) |
V. 17 | regel | 'riegel' (verschließe) | Niederdeutsch (hd. rigel) |
V. 18 | denst | 'Dienst' | Niederdeutsch (hd. dienst) |
V. 20 | jogent | 'Jugend' | Hybridform (nd. joget, hd. jugent) |
V. 21 | myr | 'mir' | Hybridform |
V. 23 | slüs | 'schließ' | Hybridform (nd. vor slut, hd. versliez) |
V. 26 | widder | 'wider' | Niederdeutsch (Peters 1.2.3.) |
V. 29 | enperen | 'entbehren' | Bairisch (Paul § L 98, § E 26, 2.) |
V. 33 | irßercket | 'eingesargt' | Bairisch (Paul § E 27, 9.) |
V. 33 | pin | 'bin' | Bairisch (Paul § L 98, § E 26, 2.) |
V. 34 | ken | 'kein' | Hybridform (nd. nên, hd. kein) |
V. 34 | irfynde | 'erfinde' | Bairisch (Paul § E 27, 9.) |
V. 35 | och | 'auch' | Hybridform (nd. ôk, hd. ouch) |
V. 38 | yrweren | 'erwehren' | Bairisch (Paul § E 27, 9.) |
V. 39 | sprochst | 'sprachst' | Niederdeutsch (Lasch § 428, Anm. 2) (vgl. 2. Sg. Ind. Prät. im Mhd. spræche) |
Einspielungen
Keine Einspielungen vorhanden.
Parallelüberlieferung
Keine Parallelüberlieferung bekannt.
Literatur
Classen, Albrecht: Deutsche Frauenlieder des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts. Authentische Stimmen in der deutschen Frauenliteratur der Frühneuzeit oder Vertreter einer poetischen Gattung (das "Frauenlied"?). Einleitung, Edition und Kommentar von Albrecht Classen. Amsterdam / Atlanta 1999 (= Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. 136). S. 121–122.
Classen, Albrecht: Deutsche Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster [u.a.] 2001 (= Volksliedstudien. 1). S. 272.
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Claussen, Bruno (Hrsg.): Rostocker niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478. Herausgegeben von Bruno Claussen mit einer Auswahl der Melodien bearbeitet von Albert Thierfelder. Buchschmuck von Thuro Balzer. Rostock 1919. S. VIII, 34–36.
Daebeler, Hans Jürgen: Musiker und Musikpflege in Rostock von der Stadtgründung bis 1700. Dissertation der Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Rostock. Rostock 1966. S. 181–182.
Fritsch-Staar, Susanne: Unglückliche Ehefrauen. Zum deutschsprachigen malmariée-Lied. Berlin 1995 (= Philologische Studien und Quellen. 134). S. 89–90, 269–271, 445–446.
Herchert, Gaby: "Acker mir mein bestes Feld". Untersuchungen zu erotischen Liederbuchliedern des späten Mittelalters. Mit Wörterbuch und Textsammlung. Münster / New York 1996 (= Internationale Hochschulschriften. 201). S. 156–157, 203, 207–208, 219–221, 224, 293–294.
Heydeck, Kurt: Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Rostock. Beschrieben von Kurt Heydeck. Wiesbaden 2001 (= Kataloge der Universitätsbibliothek Rostock. Erster Band: Die mittelalterlichen Handschriften). S. 130, 451.
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Holznagel, Franz-Josef / Möller, Hartmut: Ein Fall von Interregionalität. Oswalds von Wolkenstein "Wach auf, mein hort" (Kl 101) in Südtirol und in Norddeutschland. In: Tervooren, Helmut / Haustein, Jens (Hrsg.): Regionale Literaturgeschichtsschreibung. Aufgaben, Analysen und Perspektiven. Berlin 2003. S. 102–133, hier: S. 112 A. 36, 126. (Die Angabe des Liedtitels auf S. 127 ist fehlerhaft und bezieht sich eigentlich auf die Nr. 20: "Mit gantczem willen wunsch ich dyr")
Holznagel, Franz-Josef: Das 'Rostocker Liederbuch' und seine neue kritische Edition. Unter Mitarbeit von Andreas Bieberstedt, Udo Kühne und Hartmut Möller. In: Niederdeutsches Jahrbuch. 133. 2010. S. 45–86, hier: S. 50, 51 A. 23, 55.
Holznagel, Franz-Josef: Rostocker Liederbuch. In: Kühlmann, Wilhelm (Hrsg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollst. überarb. Aufl. Berlin / Boston 2008–2102. Band 10. 2011. S. 35–36, hier: S. 35–36.
Holznagel, Franz-Josef: Songs and Identities. Handwritten Secular Songbooks in German-Speaking Areas of the Fifteenth and Sixteenth Centuries. In: Poel, Dieuwke van der / Grijp, Louis Peter / Anrooij, Wim van (Hrsg.): Identity, Intertextuality, and Performance in Early Modern Song Culture. Leiden, Boston 2016 (= Intersections. 43). S. 118-149, hier: S. 132-133.
Lietz, Hanno (Hrsg.): Bruno Claussen an der Universitätsbibliothek Rostock. 1912–1949. Rostock 1995 (= Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek Rostock. 121). S. 57.
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S[chröder], E[dward]: Rezension zu: Rostocker Niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478. herausgegeben von Bruno Claussen, mit einer auswahl der melodien bearbeitet von Albert Thierfelder, buchschmuck von Thuro Balzer. Rostock, Hinstorff 1919. In: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Litteratur. 40. 1921. S. 149–151, hier: S. 149–150.
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