"He is noch ere noch loues wert"

Textinformationen

Nummer im RLB: 2

Blattnummer: 1v–2r

Texttyp: Register V – Moraldidaktisches Lied (1.1)

Inhalt: Moraldidaktisches Lied; ein unkonturierter Sprecher tritt, ganz nach dem Muster der spätmittelalterlichen Kurzgnomik, als Vertreter des "common sense" auf und bedient sich dabei einer eher sentenzhaften und diskursiv-setzenden Sprechhaltung. Die Rede ist an eine Gruppe junger Männer gerichtet, die im Hinblick auf einige typische Aspekte der spätmittelalterlichen Didaxe unterrichtet werden sollen. Im Mittelpunkt steht die Warnung vor Zorn und vor Streitsucht. Stattdessen wird ein Verhalten propagiert, dass sich durch Geduld, die Mäßigung der Affekte, die Orientierung an etablierten Werten der Erziehung, durch "ere" und Gottvertrauen auszeichnet.

Schreiberhand: 1; Hauptschreiber, Kursive

Autor: Keine Autorinformationen vorhanden

Melodieaufzeichnung: vorhanden

Notationstyp: A; schwarze Mensuralnotation

Textabdruck

Ranke/Müller-Blattau (1927) – S. 215 [23]f.

He is noch ere noch loues wert manckt luden,
dede nicht kan ſin ſwert behuden
ſunder wan em dingh miſhaghen.
Ach iungher man, velt dic wes an hir vmme,
liden ſwighen ſcaltu ſo en ſtumme
vnde laten de valſchen vuſte yaghen.

Drecht men hat up din ghelat, lat varen,
des wert wol rat, kanſtu dij vor dat bewaren:
dyne werke vint men yo to dem leſten.
Is ſunder griß din kantze miſ-gheüallen,
büch ſo en riß, ſo krichſtu priß van allen
griſen [. . .]en [vn]de beſsten.

Drufft di got wes, dat nimpt di nicht en ander,
des loue mich vnd hebbe di ſlicht, doch wander
an tuchten ganßlik vnd ok an eren.
Hore vnd ſich, dat rade ik dich mit alle,
wes ok vaſt recht ſo en aſt ane galle,
ſo kan de nyder dy ok nicht beueren.

Mit liſte he gat vnd dar na ſtat mit flite,
dat he gud in queat (dat deit ſyn hat) to rite:
ſus ſ[o]cht he bate an achter klaffen.
Doch wen recht ſteyt vnd dar vor geit de warde,
ſo is vorſtort ſyn valſche wort van arde:
ſus ſo endeghet ſick denne ſin ſchaffen.

Hir vmme dult men ſunder ſchult mot ſtrite[n]
vnde to der tijd de nyder nid lan biten,
dar van is deſſet vth gheſunghen.
Ach twar vorwar dit apenbar ſus lere,
deyſtu em ſo, den werſtu des fro van ſwere:
got ſchende aller nider tünghen!

He is noch ere noch loues wert mang luden,
dede nicht kan ſyn ſwert behuden
ſunder wan em dyngh myſhaghen.

Claussen (1919) – S. XIII; 1–3

De is noch ere noch loves wert mang luden,
Dede nicht kan ſyn ſwert behuden,
Sunder wan em dingh mishaghen.

Ach iungher man, velt dic wes an, hir umme
Liden, ſwighen ſcaltu ſo en ſtumme
Unde laten de valſchen vuſte yaghen.

Drecht men hat up din ghelat, lat varen,
Des wert wol rat, kanſtu dij vor dat bewaren,
Dyne werke vint men yo to den leſten.

Is ſunder griß din kantze misghevallen,
Büch ſo en riß, ſo krichſtu priß van allen
Griſen [allen] vnde beſten.

Hefft du got recht, dat nimpt di nicht en ander
Des love mich vnde hebbe di ſlicht, doch wander
In tuchten ganßlik vnde ok in eren.

Hore vnde ſich, dat rade ik dich mit alle,
Wes ok vaſt, recht ſo en aſt ane galle,
So kan de nyder dy ok nicht beveren.

Mit liſte he gat vnde dar na ſtat mit flite,
Dat he gud in quat, dat deit ſyn hat, torite,
Sus ſocht he bate an achterklaffen.

Doch wen recht fleyt vnde dar vorgeit de warde,
So is vorſtert ſyn valſche wert van arde,
Sus ſo en deghet ſick derve ſin ſchaffen.

Hir umme dult, men ſunder ſchult mit ſ[triden?]
Unde to der tijd de nyder nid lan biten
Dar van is deßet uth ver gheſunghen

Ach twar vorwar dit apenbar ſus lere
Deyſtu em ſo, den werſtu des fro v[an ſwere].
Got ſchende aller nider tunghen.

De is noch ere noch loves wert mang luden
dede nicht kann ſyn ſwert behuden
ſunder wan em ding miſſhagen

Sprachstand

H/N

RLB 2 ist überwiegend mittelniederdeutsch. Neben wenigen westniederdeutschen Varianten belegen die Kennformen den Einfluss des Nordniederdeutschen. Vereinzelt finden sich hochdeutsche bzw. hochdeutsch beeinflusste Formen.

Westnd. sind die Varianten mit o-Graphie für das gedehnte o in offener Tonsilbe, wie hier bei loues 'Lobes' (V. 1) und loue 'lobe' (V. 14). Darüber hinaus zeigt die Form dic 'dich' (V. 4) den Gebrauch des mnd. pronominalen Einheitskasus auf Akkusativbasis an, der im Ostf. galt.

Nordnd. ist die Kombination aus den pronominalen Varianten dij, di, dy (V. 8, 13, 14, 18), die auf der Basis des Dativs gebildet wurden, und aus der Form apenbar 'offenbar' (V. 28) mit a-Graphie für tonlanges o.

Hochdeutsch

Um eine eindeutig hd. Form handelt es sich bei dem Verb lan 'lassen' (V. 26). Die Pronomen dich (V. 16) und mich (V. 14) haben zwar die Form der hd. Pronomen der 2. bzw. 1. Singular Akkusativ, stehen aber in Dativposition. Insofern sind sie als hyperkorrekte Bildungen anzusprechen.
Bemerkenswert sind schließlich die Formen gat 'geht' und stat 'steht' (V. 19), die hinsichtlich der Stammvokalqualität von den mnd. Hauptformen geit und steit (Peters 2.1.10.2.) abweichen. Ob diese Formen hd. oder westf. Ursprungs sind, kann nicht sicher festgestellt werden.

Liste der Kennformen
V. 1 loues 'Lobes' Ostfälisch, Westfälisch (Peters 1.2.2.)
V. 4 dic 'dich' Ostfälisch (Peters 2.4.)
V. 8 wol 'wohl' Nordniederdeutsch, Ostfälisch (Peters 4.6.4.4.)
V. 8 dij 'dir' Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4)
V. 13 di 'dir' Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4)
V. 14 di 'dir' Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4)
V. 14 loue 'lobe' Ostfälisch, Westfälisch (Peters 1.2.2.)
V. 14 mich 'mich' Hyperkorrekte Form
V. 16 dich 'dich' Hyperkorrekte Form
V. 18 dy 'dir' Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4)
V. 19 gat 'geht' Hochdeutsch, Westfälisch (Peters 2.1.10.2)
V. 19 stat 'steht' Hochdeutsch, Westfälisch (Peters 2.1.10.2.)
V. 26 lan 'lassen' Hochdeutsch
V. 28 apenbar 'offenbar' Geldrisch-Kleverländisch, Nordniederdeutsch (Peters 1.2.2.)

Einspielungen

  • RLB 2: He is noch ere noch loues wert

    Lilienthal: Rostocker Liederbuch

Parallelüberlieferung

Keine Parallelüberlieferung bekannt.

Literatur

Classen, Albrecht: Deutsche Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster [u.a.] 2001 (= Volksliedstudien. 1). S. 270–271.

Claussen, Bruno: Über den Fund eines niederdeutschen Liederbuchs aus dem Ende des 15. Jahrh. in Rostock. In: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung. 35. 1915. 2/3. S. 18–24, hier: S. 22.

Claussen, Bruno (Hrsg.): Rostocker niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478. Herausgegeben von Bruno Claussen mit einer Auswahl der Melodien bearbeitet von Albert Thierfelder. Buchschmuck von Thuro Balzer. Rostock 1919. S. VII, XIII,1–3, 76 A. 2.

Daebeler, Hans Jürgen: Musiker und Musikpflege in Rostock von der Stadtgründung bis 1700. Dissertation der Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Rostock. Rostock 1966. S. 181–182.

Heydeck, Kurt: Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Rostock. Beschrieben von Kurt Heydeck. Wiesbaden 2001 (= Kataloge der Universitätsbibliothek Rostock. Erster Band: Die mittelalterlichen Handschriften). S. 129, 441.

Holtorf, Arne: 'Rostocker Liederbuch'. In: Ruh, Kurt / Wachinger, Burghart (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben von Kurt Ruh zusammen mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger, Franz Josef Worstbrock. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin / New York 1978–2008. Bd. 8. Sp. 253–257, hier: Sp. 255.

Holznagel, Franz-Josef: Das 'Rostocker Liederbuch' und seine neue kritische Edition. Unter Mitarbeit von Andreas Bieberstedt, Udo Kühne und Hartmut Möller. In: Niederdeutsches Jahrbuch. 133. 2010. S. 45–86, hier: S. 50 A. 20, 51 A. 22, 54, 57 A. 47.

Holznagel, Franz-Josef: Rostocker Liederbuch. In: Kühlmann, Wilhelm (Hrsg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollst. überarb. Aufl. Berlin / Boston 2008–2102. Band 10. 2011. S. 35–36, hier: S. 35–36.

Holznagel, Franz-Josef: Weltliche Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts. Zur Beschreibung eines literarisch-musikalischen Diskurses im deutschsprachigen Mittelalter. In: Krämer, Oliver / Schröder, Martin (Hrsg.): "Hebt man den Blick, so sieht man keine Grenzen." Grenzüberschreitung als Paradigma in Kunst und Wissenschaft. Festschrift für Hartmut Möller zum 60. Geburtstag. Essen 2013 (= Rostocker Schriften zur Musikwissenschaft und Musikpädagogik. 3). S. 75–87, hier: S. 86.

Lietz, Hanno (Hrsg.): Bruno Claussen an der Universitätsbibliothek Rostock. 1912–1949. Rostock 1995 (= Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek Rostock. 121). S. 57.

März, Christoph: Deutsche Liederbücher im Spiegel ihrer musikalischen Notation. Zur Disposition von Text- und Melodieaufzeichnung. In: Heller, Karl / Möller, Hartmut / Waczkat, Andreas (Hrsg.): Musik in Mecklenburg. Beiträge eines Kolloquiums zur mecklenburgischen Musikgeschichte veranstaltet vom Institut für Musikwissenschaft der Universität Rostock, 24.–27. September 1997. Mit einer Zeittafel und einer Auswahlbibliographie zur mecklenburgischen Musikgeschichte. Hildesheim / Zürich / New York 2000. S. 129–148, hier: S. 132–134, 142.

Müller-Blattau, Joseph M.: Das deutsche Volkslied. Berlin-Schöneberg 1932 (= Max Hesses Handbücher. 34). S. 29–30.

Ranke, Friedrich / Müller-Blattau, Joseph M. (Hrsg.): Das Rostocker Liederbuch nach den Fragmenten der Handschrift neu herausgegeben von Friedrich Ranke und J. M. Müller-Blattau. Halle (Saale) 1927 (= Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse. 4. Jahr. Heft 5), S. 195–200, 203, 205, 215–216, 279, 291, 303.

Rieschel, Hanspeter: Die alten niederdeutschen Lieder des Rostocker Liederbuches. In: Deutsche Musikkultur. 3. 1938/1939. S. 472–477, hier: S. 475.

Schobess, Rainer: Das Rostocker Liederbuch – eine niederdeutsche Handschrift aus dem 15. Jahrhundert. In: Kellermann, Gesine (Hrsg.): 36. Bevensen-Tagung. 16. bis 18. September 1983 in Bad Bevensen. Bad Bevensen 1984. S. 14–25, hier: S. 15.

S[chröder], E[dward]: Rezension zu: Rostocker Niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478. herausgegeben von Bruno Claussen, mit einer auswahl der melodien bearbeitet von Albert Thierfelder, buchschmuck von Thuro Balzer. Rostock, Hinstorff 1919. In: Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Litteratur. 40. 1921. S. 149–151, hier: S. 150.

S[eelmann], W[ilhelm]: Rezension zu: Rostocker Niederdeutsches Liederbuch v. J. 1478. Hrg. von Bruno Claussen. Mit einer Auswahl der Melodien bearb. von Alb. Thierfelder. Rostock, Hinstorffs Hofbuchdruckerei 1919. In: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung. 37. 1919/1921. S. 64.

Touber, Anthonius H.: Deutsche Strophenformen des Mittelalters. Stuttgart 1975 (= Repertorien zur deutschen Literaturgeschichte. 6). S. 39.