"Laue nicht dyneme frunde"

Textinformationen

Nummer im RLB: 12

Blattnummer: 13r–15r

Texttyp: Nichtsangliche Texte – Autoritätensprüche (2.1)

Inhalt: Autoritätensprüche, 15 paargereimte Vierzeiler, die in sentenzhafter Verknappung allgemeine Lebensweisheiten formulieren, deren Wahrhaftigkeit dadurch abgesichert werden soll, dass sie berühmten Personen der Antike in den Mund gelegt werden. Im Zentrum der Sprüche steht einerseits eine allgemeine Tugendlehre, die auf eine Mäßigung der Affekte abzielt. Andererseits verhandelt die Sammlung aber auch die Prinzipien gerechter Herrschaft. Die Grundlage von RLB 12 sind die lat. "Quinquaginta bona proverbialia documenta philosophorum et sapientium".

Schreiberhand: 1; Hauptschreiber, Kursive

Autor: Keine Autorinformationen vorhanden.

Melodieaufzeichnung: keine Melodie überliefert

Notationstyp:

Textabdruck

Ranke/Müller-Blattau (1927) – S. 231 [39]–233 [41]

Julius.
Laue nicht dyneme frunde,
Du willeſt dat holden to grunde.
Wes louede langhe by enen blifft,
De bewiſet dat he node ghifft.

Dauid.
De en is nen here yn ſynes vader la[nt]
De van den ſynen is vnbekant.
Des herſchop kan nicht langhe beſta[n]
Dede van den ſynen nicht is leff ghe [. . .] .

Allexander.
En vntruwe gheſelle mit dem mund[e]
Is argher wen ene quade wunde.
En ſwerdes how wert er to reke
Wen en quoad tünghen ſteke.

[. . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . .]

Plato.
De ſik nicht wil van torne gremen,
de ſchal alle wort nicht to herten nemen.
Wes ore is ene vyſcher wade,
des herte wert vul pyne drade.

Cicero.
De de wil to ghuden denſte ſtan,
de ſchal eghen willen lan,
To ſynes hern willen ſick gheuen,
Vnder ſyner walt mit vlite leuen.

Ariſtotiles.
De man hefft kleyne wyſheit,
Wes torne vorwynnet ſyne red[elic]heit.
Torn blyndet ſyn vnde [wi]tte,
Dat en man alſe en dore zitte.

Albertus.
De ſick vrowet to ſynes broders w[e],
Deme is ſyn ſchade negher wen he.
We ſynem frunde hetteſch is,
De ver deruet ſyn herte, dat is [wis].

Oraciüs.
Bekore nummer dynen frund
vmme des dy behoff dud,
Wente he hefft nicht leff van gud[. . . . . .
De leff hefft vmme penninghe vnd vmm[e . . .

Cucrobius (?).
Golt dat maket leff han,
Sunder ghelt mot de leue vorgha[n].
We ghyrichliken vorteret dat ſyn,
Den holde ik ſlym alſe en ſwy[n].

Ptolemeus.
Otmüth maket hoghen grat,
Men holt id mate, dat is rat.
Vallen maket houerdicheit,
[. . . . . . . . . . . .]

Zulzarius.
De dar mer vorteren dar,
Wen ſyn wyn is alle iar,
De en hebbe id nicht vor wunder grot,
kumpt he in armod vnd in nod.

Papias.
De dar nicht begheret ghud,
Dat is vor war en dummer man.
De dar na ſteyt dat ſchaden dued,
Dat is en dore ſunder wan.

Tobias.
Dat is nicht gude frolicheit,
Des enen inbringhet vordrotenheyt.
Dorheit is, nympt yenich man en wiff,
De nicht regeren kan ſyn eghen liff.

Zoreus.
Weme noghet in deme dat em got ghan,
De hefft mer wen gy konningh ghewan,
En dore is, de vmme fromet ghud
[. . . . . . . . . . . .].

Era[. . . . .]es.
An der werld [is] nicht arghers wat
Wen en here ſunder rat.
Vake vor los de man ſyn vnde ghued,
De vnder quader herſchop ſtued.

Claussen (1919) – S. 71–74

Julius.
Lave nicht dyneme frunde,
Du willeſt dat holden to grunde,
Wes lovede langhe by enen blifft,
De bewiſet, dat he node ghifft.

David.
De en is nen here yn ſynes vaders land,
De van den ſynen is vnbekant.
Des herſchop kan nicht langhe beſtan,
Dede van den ſynen nicht is leff ghe[dan].

Alexander.
En untruwe gheſelle mit dem munde
Js argher wen ene quade wunde.
En ſwerdes how wert er to reke,
Wen en quad tünghen ſteke.

Plato.
De ſick nicht wil van torne geven,
De ſchal alle wort nicht to herten nemen.
Wes ore is ene vyſcher wade,
Des herte wert vul pyne drade.

Cicero.
De de wil to ghuden denſte ſtan,
De ſchal eghen willen lan,
To ſynes hern willen ſick gheven,
Vader ſyner walt mit vlite leven.

Ariſtoteles.
De man hefft kleyne wysheit,
Wes torne vorwynnet ſyne rechticheyt.
Torn blyndet ſyn unde [...]
Dat en man alſe en d[...].

Albertus.
De ſick vrowet to ſynes broders we,
Deme is ſyn ſchade negher wen he.
We ſynem frunde hettiſch is,
De verdervet ſyn herte, dat is [wis].

Oratius.
Bekore nummer dynen frund
Umme des di behoff dud,
Wente he hefft nicht leff van gud [...]
De leff hefft umme penninghe vnde umme [...].

Arnobius.
Golt dat maket leff han,
Quad ghelt mot bald vorghan.
We ghyrickliken vorteret dat ſyne,
Den holde ik ſlym alſe en ſwyne.

Ptolemeus.
Otmüth maket hoghen grat,
Men holt id mate dat is rat,
Vaken maket homodicheit.
[........................................]

Zulzarius.
De dar mer vorteren dar,
Wen ſyn wyn is alle iar,
De en hebbe id nicht vor wunder grot,
Kumpt he in armod vnde in nod.

Papias.
De dar nicht begheret ghud,
Dat is vorwar en dumme man.
De dar na ſteyt dat ſchaden dud,
Dat is en dore ſunder wan.

Tobias.
Dat is nicht gude frolicheyt,
Des en bringhet vordrotenheyt.
Dorheit is, nympt yenich man en wiff,
De nicht regeren kan ſyn eghen liff.

Zoreus.
Weme noghet in deme dat em got ghan,
De hefft mer wen gy koningh ghewan.
En dore is, de umme fromet gud
[Syn eghen ghud vorloren dud?]

Tra[pezunti]us.
An der werlde [is] nicht arghers wat,
Wen en here ſunder rat.
Vake vorlos de man ſyn vnde ghud,
De under quader herſchop ſtud.

Sprachstand

H/N

Die Spruchsammlung RLB 12 ist mittelniederdeutsch. Westniederdeutsche sowie elbostfälisch-südmärkische Kennformen dominieren den Sprachstand. Vereinzelt kommen auch in diesen Texten hochdeutsche Formen vor.

Mit louede 'Lob, Gelübde' (V. 3) und vrowet 'freut' (V. 25) enthält RLB 12 Formen mit o-Graphie zur schriftlichen Realisierung des gedehnten o in offener Tonsilbe, bei der das Westf. grundsätzlich, das Ostf. über die Mitte des 15. Jahrhunderts hinaus, verharrte (vgl. aber das nordnd. Laue 'lobe' (V. 1) mit a-Graphie). Auf westl. Einfluss könnte überdies die Variante zitte 'sitze' (V. 24) mit z-Graphie im Anlaut hindeuten. Ein ostf. Charakteristikum ist die Schreibung des Doppelkonsonanten in hettesch 'gehässig, voller Hass' (V. 27) zur Markierung der Vokalkürzung. Im Nordnd. setzte sich diese Schreibung hauptsächlich vor den Silben -el und -er durch, für das Westf. ist sie nur selten belegt.

Kennzeichnend für das Elbostf. und Südmärk. sind die Schreibungen <u> bzw. <ü> für mnd. (langes) o1 bzw. ö1, wie hier in Otmüth 'Demut' (V. 37), dud und du(e)d 'tut' (V. 30, 47) sowie stu(e)d 'stand' (V. 60).

Um hd. Formen handelt es sich bei lan 'lassen' (V. 18) sowie han 'haben' (V. 33).

Liste der Kennformen

V. 1 Laue 'lobe' Geldrisch-Kleverländisch, Nordniederdeutsch (Peters 1.2.2.)
V. 3 louede 'Lob, Gelübde' Ostfälisch, Westfälisch (Peters 1.2.2.)
V. 18 lan 'lassen' Hochdeutsch
V. 24 zitte 'sitze' Frühmittelniederdeutsch, Westen (Peters 1.4.6.)
V. 25 vrowet 'freut' Ostfälisch, Westfälisch (Peters 1.2.2.)
V. 27 hettesch 'gehässig' Ostfälisch (Peters 1.2.3.)
V. 30 dy 'dir' Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4)
V. 30 dud 'tut' Elbostfälisch, Südmärkisch (Peters 1.3.7.)
V. 33 han 'haben' Hochdeutsch (Lasch § 439, Anm. 1)
V. 37 Otmüth 'Demut' Elbostfälisch, Südmärkisch (Peters 1.3.7.)
V. 47 du(e)d 'tut' Elbostfälisch, Südmärkisch (Peters 1.3.7.)
V. 59 Vake 'oft' Klassisches Mittelniederdeutsch (Peters 4.6.3.12.)
V. 60 stu(e)d 'stand' Elbostfälisch, Südmärkisch (Peters 1.3.7.)

Einspielungen

Keine Einspielungen vorhanden.

Parallelüberlieferung

Keine Parallelüberlieferung bekannt.

Literatur

Alpers, Paul: Rezension zu: Rostocker Niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478. Her. von Bruno Claussen, mit einer Auswahl der Melodien bearbeitet von Albert Thierfelder. Buchschmuck von Thuw Balzer 1919. Rostock, Hinstorff. In: Zeitschrift für deutsche Mundarten. 15. 1920. S. 186–187, hier: S. 187.

Classen, Albrecht: Deutsche Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster [u.a.] 2001 (= Volksliedstudien. 1). S. 270, 272.

Claussen, Bruno: Über den Fund eines niederdeutschen Liederbuchs aus dem Ende des 15. Jahrh. in Rostock. In: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung. 35. 1915. 2/3. S. 18–24, hier: S. 20.

Claussen, Bruno (Hrsg.): Rostocker niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478. Herausgegeben von Bruno Claussen mit einer Auswahl der Melodien bearbeitet von Albert Thierfelder. Buchschmuck von Thuro Balzer. Rostock 1919. S. VII–IX, 71–75.

Daebeler, Hans Jürgen: Musiker und Musikpflege in Rostock von der Stadtgründung bis 1700. Dissertation der Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Rostock. Rostock 1966. S. 182.

Heiser, Ines: Autorität Freidank. Studien zur Rezeption eines Spruchdichters im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 2006 (= Hermaea. 110). S. 48.

Heydeck, Kurt: Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Rostock. Beschrieben von Kurt Heydeck. Wiesbaden 2001 (= Kataloge der Universitätsbibliothek Rostock. Erster Band: Die mittelalterlichen Handschriften). S. 130, 443.

Holtorf, Arne: 'Rostocker Liederbuch'. In: Ruh, Kurt / Wachinger, Burghart (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben von Kurt Ruh zusammen mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger, Franz Josef Worstbrock. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin / New York 1978–2008. Bd. 8. Sp. 253–257, hier: Sp. 254.

Holtorf, Arne / Gärtner, Kurt: 'Autoritäten' (gereimt). In: Ruh, Kurt / Wachinger, Burghart (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter herausgegeben von Kurt Ruh zusammen mit Gundolf Keil, Werner Schröder, Burghart Wachinger, Franz Josef Worstbrock. 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin / New York 1978–2008. Bd. 1. Sp. 557–560, hier: Sp. 557.

Holznagel, Franz-Josef: Das 'Rostocker Liederbuch' und seine neue kritische Edition. Unter Mitarbeit von Andreas Bieberstedt, Udo Kühne und Hartmut Möller. In: Niederdeutsches Jahrbuch. 133. 2010. S. 45–86, hier: S. 46 A. 2, 49 A. 14, 53 A. 27, 54, 57 A. 47.

Holznagel, Franz-Josef: Rostocker Liederbuch. In: Kühlmann, Wilhelm (Hrsg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollst. überarb. Aufl. Berlin / Boston 2008–2102. Band 10. 2011. S. 35–36, hier: S. 35–36.

Lietz, Hanno (Hrsg.): Bruno Claussen an der Universitätsbibliothek Rostock. 1912–1949. Rostock 1995 (= Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek Rostock. 121). S. 57, 59.

Malm, Mike: Rostocker Liederbuch. In: Achnitz, Wolfgang (Hrsg.): Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter. Band 4. Lyrik und Dramatik. Mit einführenden Essays von Franz-Josef Holznagel und Klaus Vogelsang. Berlin / Boston 2012. Sp. 858–862, hier: Sp. 859.

Petzsch, Christoph: Zur Vorgeschichte der Stammbücher. Nachschriften und Namen im Königsteiner Liederbuch. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. 222. 1985. S. 273–292, hier: S. 280 A. 25.

Ranke, Friedrich / Müller-Blattau, Joseph M. (Hrsg.): Das Rostocker Liederbuch nach den Fragmenten der Handschrift neu herausgegeben von Friedrich Ranke und J. M. Müller-Blattau. Halle (Saale) 1927 (= Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft. Geisteswissenschaftliche Klasse. 4. Jahr. Heft 5), S. 195–196, 198–200, 231–232, 282.

Touber, Anthonius H.: Deutsche Strophenformen des Mittelalters. Stuttgart 1975 (= Repertorien zur deutschen Literaturgeschichte. 6). S. 39.