"Scheyden du scheyden du vil sendighe not"
Textinformationen
Nummer im RLB: 1/38a
Blattnummer: 1r; 30v
Texttyp: Register I – Werbelied / Sehnsuchtsklage (1.3.1)
Inhalt: Werbelied, das sowohl Anklänge an die hochmittelalterliche Tradition enthält, wie z.B. die Stilisierung des Ich-Sprechers zum Liebenden, die Artikulation der Distanz zwischen Ich-Sprecher und Dame, das Motiv von der Liebe als Qual oder Krankheit, als auch Charakteristika des Liebesliedes des späten Mittelalters. Diese lassen sich vor allem im Gegensatz zum klassischen Minnelied beschreiben: Keine mehrfache Rollenzuschreibung des Ich-Sprechers, fehlende Vorstellung von der Liebe als Dienst an der Dame und letztlich auch an der höfischen Gesellschaft, Konzentration auf die Zweierbeziehung von Liebendem und Dame, Vereinfachung der Sprache. Lied Nr. 1 stellt damit ein besonders markantes Beispiel für die spätmittelalterliche Überformung der hochmittelalterlichen Minnelyrik dar, die sich dann auch in den anderen Liedern des RLB, die diesem Liedtyp zuzuordnen sind, nachweisen lässt.
Schreiberhand: 1; Hauptschreiber, Kursive
Autor: Keine Autorinformationen vorhanden
Melodieaufzeichnung: vorhanden auf Bl. 1r
Notationstyp: B; als "tenor" bezeichnete Melodie; schwarze Mensuralnotation wird ergänzt um charakteristische Gruppen von puncta in Dreier- und Viererverbünden
Textabdruck
Ranke/Müller-Blattau (1927) – S. 215 [23]; 257 [65]f.
Scheyden du ſcheyden du vil ſendighe not,
ach dyne walt myr altzyt gebod,
du makeſt du makeſt my roet went an den dot,
des myr des myr nicht banghers
des my nicht banghers kan vnde mach gheſyn.
alius verſus ſequitur.
Scheyden du vil feldighe noet,
dat dyne ghewald myr alle tijd dat gheboed:
du makeſt my roet
went in den doet
dat my nicht bangher kan vnd mach gheſyn.
Dat herte is altijt [. . . .]ych vul,
wor leff van leue ſich ſcheyden ſchal,
dat dot nicht wol.
hir vmme ghedulde
gar ynnichlik in deme herten myn.
Mit mennighen ſuchten gar ynnichlick
ſten alle myne dancken ghar in hynder lick
we wol dat ſe ken wort ny to [my] ſprack,
dat gheringhe worde deme junghen herten myn.
Claussen (1919) – S. XII; 1
Scheyden du scheiden du vilſendighe not
dat dyne walt myr alzyt gebod
du makeſt my rot went an den dot
des myr des myr nicht banghers
des my nicht banghers kan unde mach gheſyn.
Scheyden, du vilſendighe noet,
Dat dyne ghewold myr alle tijd (dat) gheboed,
Du makeſt my roet
Went in den doet,
Dat my nicht bangher kan vnde mach gheſyn.
Dat herte is altijt truren vul,
Wor leff van leve ſich ſcheyden ſchal,
Dat dot nich wol.
Hir vmme gheduld(e)
Gar ynnicklick in deme herten myn.
Mit mennighen ſuchten gar ynnichlick
Sten twar myne dencken ghar in hynderlick
Worumme de ken wort
Ny to [my] ſprak
Dat gheringhe worde in dem herten myn.
Sprachstand
H/N
Der Sprachstand von RLB 1 ist mittelniederdeutsch mit Kennformen verschiedener räumlicher Varietäten und einzelnen hochdeutsch beeinflussten Formen. Die erste Strophe des Textes wurde zweimal in die Handschrift eingetragen – auf Blatt 1r (hier Fassung 1a) zusammen mit der Melodie sowie auf Blatt 30v (im Kommentar 38a, hier 1) ohne Melodie und mit zwei weiteren Strophen.
Niederdeutsch
Unter den nd. Kennformen ragen mit wor 'wo' (V. 7) eine nordnd. und mit dot 'tut' (V. 8) eine westf. Variante heraus. Die Ausprägung des Personalpronomens der 1. Singular Dativ und Akkusativ auf Dativbasis (V. 3 und 5) ist charakteristisch für beide Varietäten.
Hochdeutsch
Den hd. Einfluss belegen zum einen die Form altzyt 'allzeit' (1a, V. 2) mit der Graphie <tz> für die hd. Affrikata [ts] anstelle des nd. Verschlusslautes /t/, zum anderen die Variante myr 'mir' (V. 2) mit Liquid r im Auslaut und schließlich die Hybridformen ghesyn 'sein' (V. 5), sten 'stehen' (V. 12) und ken 'kein' (V. 13).
Die Variante ghesyn bzw. syn für den Infinitiv von 'sein' kommt aus dem Hd. und ist im Mnd. neben der Hauptvariante wesen belegt (Peters 2.1.10.3.). Die schriftliche Realisierung von ghesyn mit der Graphie <gh> ist jedoch nd. (Lasch § 341). Einen anderen Typ von Hybridität repräsentiert sten als Variante der 3. Plural Präsens Indikativ von 'stehen'. Die Qualität des Stammvokals, auf den die Graphie <e> hindeutet, ist hd. (vgl. stênt) und gilt als kennzeichnend für das Bairische, Ostfränkische sowie für das Ostmitteldeutsche (Paul § M 105). Hingegen entspricht die Flexionsendung -n anstelle von hd. -nt dem mnd. Paradigma (vgl. stân) (Lasch § 448). Bei der dritten hybriden Form ken schließlich handelt es sich um eine hd.-nd. Variante des Indefinitpronomens 'kein'. Während das k im Anlaut der mhd. Form kein entspricht (Paul § M 55), korrespondiert die Schreibung <e> mit dem Monophthong in der mnd. Form nên (Peters 4.5.6.6.).
Liste der Kennformen
1a, V. 2 | altzyt | 'allzeit' | Hochdeutsch |
V. 2 | myr | 'mir' | Hochdeutsch |
V. 3 | my | 'mir' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
V. 5 | my | 'mir' | Nordniederdeutsch, Südmärkisch, Westfälisch (Peters 2.4) |
V. 5 | ghesyn | 'sein' | Hybridform |
V. 7 | wor | 'wo' | Nordniederdeutsch (Peters 4.6.1.1.) |
V. 8 | dot | 'tut' | Westfälisch (Peters 2.1.10.2.) |
V. 8 | wol | 'wohl' | Nordniederdeutsch, Ostfälisch (Peters 4.6.4.4.) |
V. 12 | sten | 'stehen' | Hybridform (Paul § M 105) |
V. 13 | wol | 'wohl' | Nordniederdeutsch, Ostfälisch (Peters 4.6.4.4.) |
V. 13 | ken | 'kein' | Hybridform |
Einspielungen
RLB 1: Scheyden, du vil sendighe not!
RLB-Ensemble: Das Rostocker Liederbuch
RLB 1: Scheyden, du scheyden du vil sendighe not
Lilienthal: Rostocker Liederbuch
Parallelüberlieferung
- <link 172 - internal-link "Öffnet internen Link im aktuellen Fenster">Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz: mgf 488 (Handschrift des Martin Ebenreuter), Bl. 241v</link>
- Leipzig, Universitätsbibliothek: Ms. Apel 8 [früher Ms. 1709; davor Halle (Saale), Universitäts- und Landesbibl.: Cod. 14 A 39] (Bechsteins Handschrift), Bl. 374r
- München, Bayerische Staatsbibliothek: Cgm 379 (Augsburger Liederbuch), Bl. 106v
- Praha, Knihovna Národního Muzea: Cod. X A 12 (Liederbuch der Klara Hätzlerin), Bl. 310r/v
Literatur
B[olte], J[ohannes]: Rezension zu: Rostocker Niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478, hsg. von Bruno Claussen, mit einer Auswahl der Melodien bearbeitet von Albert Thierfelder. Rostock, C. Hinstorff 1919. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. 30–32. 1920–1922. S. 28.
Classen, Albrecht: Deutsche Liederbücher des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster [u.a.] 2001 (= Volksliedstudien. 1). S. 270–271.
Claussen, Bruno: Über den Fund eines niederdeutschen Liederbuchs aus dem Ende des 15. Jahrh. in Rostock. In: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung. 35. 1915. 2/3. S. 18–24, hier: S. 23.
Claussen, Bruno (Hrsg.): Rostocker niederdeutsches Liederbuch vom Jahre 1478. Herausgegeben von Bruno Claussen mit einer Auswahl der Melodien bearbeitet von Albert Thierfelder. Buchschmuck von Thuro Balzer. Rostock 1919. S. VII–IX, XII, 1, 76 A. 1.
Daebeler, Hans Jürgen: Musiker und Musikpflege in Rostock von der Stadtgründung bis 1700. Dissertation der Hohen Philosophischen Fakultät der Universität Rostock. Rostock 1966. S. 182.
Glagla, Helmut (Hrsg.): Das plattdeutsche Liederbuch. 123 niederdeutsche Volkslieder von der Frührenaissance bis ins 20. Jahrhundert. 2., verbesserte Auflage. München / Zürich 1982 (= Artemis Bücher zur Musik). S. 37.
Heydeck, Kurt: Die mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek Rostock. Beschrieben von Kurt Heydeck. Wiesbaden 2001 (= Kataloge der Universitätsbibliothek Rostock. Erster Band: Die mittelalterlichen Handschriften). S. 129, 131, 450.
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Holznagel, Franz-Josef: ‚wil gi horen enen sanck?‘ Zum Konzept einer Medienkulturgeschichte der Lyrik in den handschriftlichen, weltlichen Liederbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Klein, Dorothea / Brunner, Horst / Löser, Freimut (Hrsg.): Überlieferungsgeschichte transdisziplinär. Neue Perspektiven auf ein germanistisches Forschungsparadigma. Wiesbaden 2016 (= Wissensliteratur im Mittelalter. 53). S. 307–336, hier: S. 324.
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Spiewok, Wolfgang: Das Rostocker Liederbuch. In: Spiewok, Wolfgang / Buschinger, Danielle (Hrsg.): Mittelalter-Studien II. Göppingen 1989. S. 310–321, hier: S. 311.
Spiewok, Wolfgang: Das "Rostocker Liederbuch". Beispiel für eine spätmittelalterliche Liedersammlung. In: Spiewok, Wolfgang (Hrsg.): Geschichte der deutschen Literatur des Spätmittelalters. II. Band. Die lyrische Literatur des Spätmittelalters. Das Drama des Spätmittelalters. Greifswald 1998. S. 56–58, hier: S. 56–57.
Spiewok, Wolfgang: Das Rostocker Liederbuch. In: Spiewok, Wolfgang (Hrsg.): Mittelalterliche Literatur up plattdütsch. Greifswald 1998. S. 65–75, hier: S. 66.
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Wendler, Josef: Studien zur Melodiebildung bei Oswald von Wolkenstein. Die Formeltechnik in den einstimmigen Liedern. Diss. Saarbrücken 1961. Tutzing 1963. S. 164–166, 199.